Findet sich für ein insolventes Industrieunternehmen kein Investor, geht es per Beschluss in die Ausproduktion. Das „Aus“ bedeutet in diesem Falle allerdings keinen sofortigen Stillstand im Werk. Es geht vielmehr um ein sorgsam gesteuertes Auslaufen der Produktion. Um für alle Beteiligten – Mitarbeiter, Kunden, Gläubiger und Lieferanten gleichermaßen – ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen.

Wir sprachen mit Thomas Schulte, Interim-Manager und Geschäftsführer bei der pressmetall GDC Group GmbH und Axel Gerock, Qualitätsmanager und Consultant für Restrukturierung und Sanierung. Als eingespieltes Team begleiteten sie u. a. die Ausproduktion des pressmetall-Werks im mittelfränkischen Gunzenhausen und konnten den Prozess mit ungewöhnlich gutem Ergebnis abschließen.

Herr Schulte, Sie haben als Interims-Manager bereits mehrere Ausproduktionen gesteuert. Welche Gründe führen zum Einleiten eines solchen Prozesses?

Thomas Schulte: In der Regel leiten Unternehmen den Ausproduktionsprozess nach einem gescheiterten M&A-Prozess ein. Der letzte potenzielle Investor hat sein Angebot zurückgezogen, sodass im Falle einer Insolvenz dem Gläubigerausschuss nur noch eine Möglichkeit bleibt: das Unternehmen zu schließen. Dazu gibt es im Normallfall leider keine Alternative. Die Ausproduktion ist dann der nächste Schritt der Umsetzung.

Axel Gerock: Es kann auch passieren, dass es zur Abspaltung eines Geschäftsbereichs kommt. Nehmen wir das Beispiel einer Gießerei: Wenn die Kunden keine Gussteile mehr benötigen, sondern nur noch Kunststoffteile, dann wird ein Unternehmensteil schließen müssen. Der Ausproduktionsprozess verläuft dann ähnlich wie bei einer Insolvenz.

Welches sind dann die nächsten Schritte?

Thomas Schulte: Ich möchte das am Beispiel der pressmetall GDC Group GmbH aufzeigen: Das Unternehmen konnte nach einem zuvor eingeleiteten Sanierungsverfahren leider nicht an einen Investor verkauft werden, sodass seine Schließung beschlossen wurde. Kunden im Bereich Automotive (OEMs = Original Equipment Manufacturers = Automobilhersteller) können allerdings ihre Produktion nicht von heute auf morgen auf andere Zulieferer verlagern. Also sind sie mit uns eine Ausproduktionsvereinbarung eingegangen, in der die genauen Bedarfe auf Wochen- und Monatsbasis festgehalten wurden. Dafür übernahmen sie einen Großteil der Kosten, erwarteten aber auch punktgenaue Belieferung.

Beobachten Sie hier einen Trend? Sprich: Sind in Zukunft mehr Ausproduktionen zu erwarten?

Thomas Schulte: So hart es klingt, aber eine Insolvenz bietet auch die Möglichkeit der Marktbereinigung; der Reduzierung eventueller vorhandenen Überkapazitäten. Durch Umverteilung können die noch vorhandenen Marktteilnehmer ein kleines Stück mehr vom Kuchen abbekommen. Wir verzeichnen in bestimmten Branchen schlichtweg Überkapazitäten; der Automotive-Sektor gehört dazu. Von fünf Lieferanten wird der Kuchen dann plötzlich auf vier verteilt, weil der Markt nicht unendlich wachsen kann. Das macht die verbliebenen Unternehmen natürlich stärker abhängiger von einem OEM.

Axel Gerock: Seit drei Jahren verzeichnen wir praktisch keinen Strukturwandel mehr. Das liegt u. a. an der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und den staatlichen Hilfen für Unternehmen im Rahmen des Corona-Hilfsprogramms. Durch die Geldschwemme über die KfW existieren jetzt viele „Zombie-Unternehmen“, die eigentlich auf dem Weltmarkt keine Existenzberechtigung mehr haben. In meinem Umfeld wird außerdem befürchtet, dass im Zuge dieser Entwicklung Diversifikation nicht nachhaltig genug eingeleitet worden ist. Und dass diese Unternehmen daher in ihrem alten Geschäftsfeld steckenbleiben. Wenn sich keine Investoren mehr finden, die solche Unternehmen noch einmal auffangen, laufen sie in die Insolvenz und gegebenenfalls in die finale Schließung.

Thomas Schulte: Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen weiteren Punkt anführen: Derzeit sind gewisse Teile-Volumina im Markt einfach nicht vorhanden. Um ein Beispiel aus dem Automotive-Sektor zu nennen: In diesem Jahr werden rund 800.000 Autos nicht gebaut werden können, weil der Chip-Mangel auf dem Weltmarkt deutlich spürbar ist. Das heißt, nicht nur die OEMs, auch die Zulieferer können nicht produzieren. Das betrifft insbesondere Serienfertiger, bei denen sonst Riesenstückzahlen vom Band gelaufen sind.

Betrifft das nicht auch andere Branchen?

Axel Gerock: Es betrifft hauptsächlich die Automobil- und Automobilzulieferindustrie. Zulieferer generieren teilweise bis zu 80 Prozent ihres Umsatzes aus der Lieferung von Teilen an OEMs. Der Tsunami muss nicht zwangsläufig kommen. Aber die Gefahr besteht, dass es durch den aufgeschobenen Strukturwandel zu einem harten Einbruch im Markt kommt. In der Vergangenheit wurden viele Unternehmen aus der Insolvenz herausgekauft, weil sie noch einen guten Kern hatten. Das ist zunehmend nicht mehr der Fall.

Wann kommen Sie als Interims-Geschäftsführer und Qualitätsmanager in der Ausproduktion ins Spiel?

Thomas Schulte: In der Regel passiert Folgendes: In dem Moment, in dem die Ausproduktion beschlossen und offiziell verkündet worden ist, verlassen die Führungskräfte das sinkende Schiff und suchen nach neuen Aufgaben, weil es ja keine Zukunft im Unternehmen mehr für sie gibt. Dann werden wir an Bord geholt: Manager, die mit der Situation „Krise“ umgehen können und Erfahrungen haben mit den unzähligen Stolpersteinen, die bis zur Schließung des Werks und darüber hinaus auf dem Weg liegen. Gemeinsame Zielsetzung ist, dass es für alle Beteiligten ein gutes Ende gibt – auch wenn am Ende des Tages der Arbeitsplatzverlust steht.

Es geht also zunächst darum, Vertrauen zu den Mitarbeitern aufzubauen?

Thomas Schulte: Genau, Herr Gerock und ich haben das schon zwei Mal zusammen durchlebt. Eine offene Kommunikation mit sämtlichen Beteiligten ist entscheidend – und in dem Fall schaue ich tatsächlich zunächst auf die Mitarbeiter und nicht auf den Gläubigerausschuss oder die Gläubiger. Man muss das Unternehmen stabilisieren, die Führungskräfte an Bord halten und versuchen, die gesamte Mitarbeiterschaft bis zum Ende der Ausproduktion zu motivieren. Die Motivation liegt hier sehr häufig zwischen Daumen und Zeigefinger, im Sinne einer Halteprämie. Die Kunden übernehmen im Rahmen einer Ausproduktion ja – wie anfangs beschrieben – einen Großteil der Kosten, erwarten aber auch punktgenaue Belieferung. Und das funktioniert nur, wenn man über qualifizierte und motivierte Mitarbeiter verfügt.

Wie teilen Sie sich Ihre Zuständigkeiten im Rahmen des Ausproduktionsprozesses auf?

Thomas Schulte: Im Falle pressmetall trage ich als alleiniger Geschäftsführer die Verantwortung für die gesamte Ausproduktion, inklusive der persönlichen Haftung für etwaige Fehler. Ich arbeite also eher im Sinne der Gesamtstrategie – in enger Absprache mit Axel Gerock, der das Ganze dann operativ auf dem Shopfloor umsetzt.

Axel Gerock: Auch für den Apparat Qualitätssicherung gilt Fingerspitzengefühl. Man erreicht die produzierenden Mitarbeiter konstruktiv, wenn man ihnen klarmacht, was passiert, und was es letztendlich auch für sie persönlich bedeutet, wenn zu viel Ausschuss produziert wird. Wenn sich die Insolvenzmasse reduziert, schwindet ja letztendlich auch der Anteil, den die Mitarbeiter am Ende daraus erhalten. Ein sensibler Umgang mit den Mitarbeitern ist daher wichtig. Sie sollten spüren, dass man sie ernst nimmt. Auch kundenseitig muss man Vereinbarungen treffen. Beispielsweise, um sicherzustellen, dass ein Kunde Teile auch dann noch abnimmt, wenn die Qualität vielleicht nicht hundertprozentig sein sollte. Lieferantenseitig gilt es immer wieder mal, Unwillen zu besänftigen, der aufgrund der Verluste durch die Insolvenz entsteht.

Das heißt, Sie arbeiten in dem Prozess Hand in Hand?

Axel Gerock: Genau. Wir tauschen uns meist schon beim Frühstück kurz aus: Was gibt es für Absprachen mit den Kunden? Was ist hinsichtlich der Freisetzung von Mitarbeitern geplant? Etc. Es geht dabei um Themen, die auch Konsequenzen für die Produktion haben. Wenn man kurz vor Weihnachten zwanzig Prozent der Belegschaft freisetzen muss, hat das auch Auswirkungen auf indirekte Bereiche. Prozesse laufen dann nicht mehr so ab, wie sie es allein aus Haftungsgründen heraus sollten. Man muss schauen, dass man die Löcher so klein wie möglich hält und stets mit Sicherheitsnetzen arbeitet. Stichwort „Prozess“: Recht häufig stocken die Kunden im Laufe einer Ausproduktion in einer Art Überreaktion ihre Lager auf.

Auch das kann zu Problemen führen, oder?

Axel Gerock: Ja, hier gibt es zwei Szenarien: Auf der eigenen Seite gibt es die von Ihnen genannte Überdisposition: Der Kunde befürchtet, dass das insolvente Unternehmen in der Ausproduktion nicht mehr bedarfsentsprechend liefern kann. Er bestellt dann größere Mengen über die getroffene Vereinbarung hinaus, damit es nicht zu einem Engpass kommt. Später stellt er dann vielleicht fest, dass doch genug produziert wird und versucht die zusätzlich bestellte Ware zu stornieren. Da spielt die Insolvenzverwaltung natürlich nicht mit. Das kann dann wiederum dazu führen, dass nach Fehlern in den Produkten gesucht wird, um sich über das Thema Qualität der Überdisposition zu entledigen.

Das zweite Szenario wurde von Thomas Schulte bereits angesprochen: Die Reduktion der Lieferantenzahl. Der OEM hat sich zwischenzeitlich einen anderen Lieferanten gesucht und versucht nun, sich der bereits in Auftrag gegebenen Lieferung zu entledigen, obwohl die Teile zeichnungs- und spezifikationsgerecht sind. Da hilft es dann nur, Rückgrat zu bewahren. In einem Fall wollte der Kunde neun LKW-Ladungen bestellter Ware zurückgehen lassen. Wir haben die Retoure auf drei Euro-Gitterboxen reduzieren können. Durch Qualitätssicherung, akribische Dokumentation und die enge Einbeziehung von Mitarbeitern mit hoher Fachkompetenz in die Gespräche mit dem Kunden.

Wichtig für OEMs ist auch die Sicherung der sogenannten Allzeitbevorratung: Hersteller müssen Ersatzteile 15 Jahre lang vorhalten können.

Thomas Schulte: Werkzeuge landen am Ende der Ausproduktion meist in der Verschrottungen. Weil sie nicht mehr gebraucht werden. Oder weil sie nicht mehr den aktuellen Produktanforderungen der Kunden entsprechen. Aus einem alten Gaul man kein Rennpferd mehr machen. Im pressmetall-Werk Gunzenhausen haben wir weit über Tausend Druckgusswerkzeuge letztendlich verschrotten müssen. Das bedeutet natürlich auch, dass es dann nur noch eine begrenzte Anzahl von Ersatzteilen gibt. Der Endkunde hat hier später vielleicht das Nachsehen. In der Regel lässt sich in einem solchen Fall aber kundenseitig eine Lösung finden.

Im Beispiel pressmetall steuerten Sie den Ausproduktionsprozess durch mehrere Lockdowns hindurch. Brachte das zusätzliche Problematiken mit sich?

Nein, wir hatten keine Einbußen, ganz im Gegenteil. Die OEMs mussten ihre Produktion absichern und orderten, was ging. Bereits im November 2020 schoss die Nachfrage plötzlich nach oben. Es ging darum, Allzeitbedarfe zu produzieren, Bedarfe der aktuellen Serienfertigung abzusichern und auch um den Anlauf der Produktion bei neuen Lieferanten.

Unter dem Strich haben wir so in Gunzenhausen fast 50 Prozent mehr Leistung in sieben Monaten hervorgebracht als zu Beginn der Ausproduktion vereinbart war. Ein mehr als zufriedenstellendes Ergebnis.

Apropos: Wann ist eine Ausproduktion für Sie gelungen?

Thomas Schulte: Wenn man besser ist als die Vereinbarung – wie wir in Gunzenhausen. Wenn es zu keinem Bandstillstand oder Abriss der Lieferkette kommt, und wenn jeder Mitarbeiter stolz auf das sein kann, was er geleistet hat.

Welchen Rat möchten Sie Unternehmen mit auf den Weg geben, die vor einer Ausproduktion stehen?

Thomas Schulte: Entscheidend ist eine offene, ehrliche Kommunikation mit allen Mitarbeitern. Insbesondere die Führungskräfte sollten im Detail eng in den Prozess einbezogen werden. Das bringt einen spürbaren Mehrgewinn für die gesamte Mannschaft.

Und welchen Tipp haben Sie für OEMs?

Thomas Schulte: Von Anfang an ein übergreifendes präventives Risikomanagement zu betreiben. Das heißt, viel stärker in das Präventive zu gehen anstatt zu spät zu reagieren. Jeder OEM, der einen Lieferanten im Rahmen einer Ausproduktion hat bezahlen müssen, sagt sich anschließend: Das hat aber viel Geld gekostet. Ich nenne das, salopp formuliert: Lernen durch Schmerz. Da hilft es auch nicht, einmal im Jahr Fragebögen an die Lieferanten rauszuschicken. Man muss wirklich in die Unternehmen reingehen, wie Axel Gerock und ich es tun. Vor Ort sein und dort die Prozesse analysieren – sowohl auf der finanzwirtschaftlichen als auch auf der operativen Seite. Um zu schauen, wie gut steht denn mein Lieferant da. Insolvenzen sind richtig teure Angelegenheiten, insbesondere für die großen OEMs.

Ist präventives Risikomanagement nicht eine Selbstverständlichkeit für große Hersteller?

Axel Gerock: Das sollte man meinen. Aber viele große und namhafte deutsche Automobilzulieferer haben selbst zwölf Monate nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens noch keinen Alternativlieferanten gefunden. Natürlich gibt es auch Unternehmen, die einen Plan B in der Tasche haben und sofort in der Lage sind, zu reagieren. Aber die sind unserer Beobachtung nach nicht breit gesät. Die meisten befinden sich irgendwo zwischen den beiden eben genannten Alternativen, und der Plan B ist in der Regel nicht sehr ausgereift. Hier ließen sich sowohl auf OEM-Seite als auch auf Seiten der verschiedenen Zulieferer-Ebenen im Vorfeld entscheidende Stellschrauben drehen. Angesichts des zu erwartenden Strukturwandels könnte dies in nächster Zeit sehr wichtig werden.

Vielen Dank für das Interview, Axel Gerock und Thomas Schulte.

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