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Volle Lager, volle Regale, eine Top-Auswahl und ein gut geplanter Abverkauf.
Ist das überhaupt möglich? Denn ganze Branchen haben überproduziert. Und tun dies immer noch. In der Lebensmittelindustrie – vorrangig im Bäckereigewerbe – werden buchstäblich Tonnen für die Tonne produziert. Und auch die Fast Fashion-Industrie agiert ähnlich.

Welche Geschäftsmodelle führen aus der Fehlplanung? Wie kann das Retourenmanagement optimiert werden? Und was müssen Unternehmen bei der Nutzung von smarten Forecasts und Warenwirtschaftssystemen beachten? Ein Gespräch mit Dr. Tim Bauer, Director bei enomyc.

Dr. Bauer, in einigen Branchen fehlen Teile und die Lager sind leer. In anderen wiederum misslingt der Abverkauf und die Lager platzen aus allen Nähten. Wie erklären Sie den letzten Umstand?

Die Beobachtung stimmt, es gibt tatsächlich beides. Branchen, deren Lager aktuell voll sind, haben wegen unterbrochener Lieferketten lange auf Ware warten müssen. Aber nun sind die Bestellungen abgearbeitet, die Welle an Ware kommt an. Alles ist wieder verfügbar. Bloß will sie momentan niemand kaufen. Das ist der Grund, warum einige Lager teils bis zur Kante voll sind.


Wir sprechen heute über Geschäftsmodelle gegen die Verschwendung. Bevor wir aber auf diese eingehen: In welchen Branchen beobachten Sie aktuell die größte Diskrepanz zwischen Planung, Produktion und Abverkauf? Wo findet die größte Verschwendung statt?

Vorrangig beobachte ich sie in der Lebensmittel- und Modeindustrie. Das beeinflusst auch stark das Retourenmanagement. Beginnen wir aber mit der Modeindustrie, so ist das Geschäftsmodell teilweise auf Verschwendung ausgelegt: Produkte werden in einer Weise hergestellt und preislich angeboten, die bewusst impliziert: Dieses Kleidungsstück wird nur wenig getragen, dann retourniert. Im schlimmsten Fall sogar weggeworfen. Solche Geschäftsmodelle fördern ein verschwenderisches Verhalten der Konsument:innen. Sie kaufen Unmengen an Produkten, die sie eigentlich nicht brauchen.  

Das hat fatale Folgen: Die Europäer:innen verbrauchten allein im Jahr 2020 durchschnittlich 15 Kilogramm Textil pro Kopf. Das berichtete die EEA. Parallel warfen wir hierzulande 4,6 kg Textil pro Person in den Müll. 

Und genau vor diesem Hintergrund müssen Geschäftsmodelle solcher Art überdacht oder evaluiert werden. Denn sieht man sich den kompletten Rohstoffkreislauf an, so befriedigt Fast Fashion das Bedürfnis nach kurzfristig verfügbarer, günstiger Mode bis etwas anderes en vogue ist. Der starke Trend hin zu E-Commerce hat diese Entwicklung noch verstärkt.

Was das Retourenmanagement auf den Plan wirft.

Richtig. In der Modeindustrie ist es gängig, dass man mit 50 bis 60% Retouren arbeitet. Die Verschwendung findet hier also auch in der Logistik statt. Produkte werden geliefert und zurückgesendet – das sieht das Geschäftsmodell bereits vor. Häuser wie Amazon und Zalando haben diese unkomplizierte, risikofreie Art zu shoppen stark vorangetrieben und den Wettbewerb sehr gesteigert. Zusätzlich zur logistischen Verschwendung kam auch das Thema auf, wie mit Retouren verfahren wird. Da gab es teilweise größere Skandale, wonach retournierte Ware direkt vernichtet wurde. Den Händlern kam das günstiger zu stehen, als B-Ware anzubieten. Damit sich dieser Schritt lohnt, müssen Artikel aber auch eine gewisse Wertschöpfung haben. Schließlich muss ja ins Retourenmanagement investiert werden.

Wie wäre es denn, wenn Retouren von vornherein minimiert würden? Beobachten Sie bereits interessante Ansätze im Online-Handel?

Ja, in der aktuellen Situation wird schon versucht, die als normal geltende Retourenquote von 50 bis 60% zu optimieren. Einige Online-Händler versuchen, ihre Kund:innen dahingehend zu erziehen. Beispielsweise, indem sie ihnen nur noch Vorkasse als Bezahlmethode anbieten. Oder die Kosten für die Retouren auf sie übertragen. Zusätzlich gibt es seit einer Weile – und in Anbetracht der Möglichkeiten durch Künstliche Intelligenz, Virtual Reality und Metaverse – auch noch ganz andere Lösungen. Beispielsweise Shop-Applikationen, die über 3D-Messung die exakte Ermittlung der Körpermaße liefern. So können Konsument:innen von vornherein das passende Kleidungsstück für sich auswählen. Damit ließe sich vermeiden, dass sie mehrere Größen bestellen, die richtige erst bei der Anprobe zu Hause zu ermitteln und die restlichen retournieren.
 

Welche Unternehmensbereiche und welche unternehmerischen Entscheidungen haben außerdem das Zeug, Verschwendung zu minimieren? 

In den Unternehmensbereichen sehe ich klar den Vertrieb und die Produktion als primäre Entscheider – jeden Bereich für sich, aber auch insbesondere das Zusammenspiel beider. So wird zum einen der Output vom Vertrieb an die Produktion gemeldet. Er definiert, welche Mengen produziert werden. In der Produktion selbst kommt es dann aber auf die Art und Weise an, wie produziert wird – also auf die Produktionsmethoden. Werden veränderte Produktionsmethoden angenommen, können bei gleichem Output entsprechend auch weniger Ressourcen eingesetzt werden. 
 

Wie könnten einige Leitfragen rund um veränderte Produktionsmethoden lauten? 

Nehmen wir den Einsatz von Energie: Können beispielsweise Techniken wie Wärmerückgewinnung Energie sparen? Im Hinblick auf Rohstoffe: Können die eingesetzten Mengen evaluiert werden? Wie ließen sich beispielsweise Verschnitte vermeiden? Auch Planbarkeit und Timing beeinflussen Produktionsmethoden, denn der Vertrieb meldet oft relativ kurzfristig Bedarf an. Die Produktion benötigt dagegen Vorlauf. Wie kann hier smarter agiert werden? Können relevante Daten und die anschließende Analyse eine Basis für nützliche Auswertungen bieten? Es gibt sehr viele und gute Methoden, die bereits angewendet werden. Vielleicht wären Forecasts das passende Instrument?
 

Zurück zum vertrieblichen Ansatz: Welche Geschäftsmodelle versprechen denn hier Abhilfe? Gibt es bereits welche, die von vornherein Verschwendung vermeiden lassen?

Ja, es gibt vielversprechende Geschäftsmodelle – sogar im Lebensmittelsegment, in dem der Absatz bekanntlich schwerer planbar ist. In bestimmten Nischen funktionieren Abo-Modelle gut. Ich denke dabei an Konzepte wie die "Biokiste". In größeren Supermärkten eignet sich das Geschäftsmodell der Vorbestellung. Gut angenommen wird es, wenn Anbieter ihren Kund:innen im selben Zuge auch einen besonderen Mehrwert bieten. Nehmen wir an, es gibt für Vorbestellungen spezielle Rabatte. Der Bestellprozess wäre technologisch verschlankt und der Zeitgewinn immens. Kund:innen würden Ware über eine App bestellen, ihre Rabatte einlösen können, online bezahlen und die fertig gepackte Bestellung direkt abholen. Beide Modelle – Abo und Vorbestellung – gehören zur vertrieblichen Optimierung. 
 

Was gehört zur zweiten Komponente dazu, der Produktionsmethode, im Hinblick auf Ressourcenschonung? 

Optimalerweise bleiben Produkte dauerhaft im Markt. Hier lautet das Stichwort Reparierbarkeit. Durch sie erreicht man Ressourcenschonung. Die EU-Kommission hat dazu einen Gesetzesvorschlag gemacht: Demnach sollen Unternehmen ab 2023 verpflichtend Reparaturmöglichkeiten und genormte Ersatzteile zur Verfügung stellen. Das übergeordnete Ziel lautet, Verschwendung und Müll – beispielsweise Elektroschrott – einzudämmen und Alternativen zum Neukauf transparent zu machen. Von der Bevölkerung wird der Vorschlag weitgehend akzeptiert, sogar ausdrücklich gewünscht.  
 

Und die Wirtschaft? Denn dieser Ansatz würde ja im Umkehrschluss bedeuten: Einige Produkte müssten von vornherein so konstruiert werden, dass sie überhaupt reparierbar sind. 

Genau, dann wäre die Möglichkeit gegeben, Produkte relativ schlank zu reparieren oder sie selbst modular auszutauschen. So blieben sie länger im Umlauf, länger im Markt. Ein Beispiel aus der Hightech-Branche: Wie könnten die Batterien für E-Autos konzipiert werden, sodass sie später in Haustechnik weiterverwendet werden könnten? Oder nehmen wir die Lebensmittelindustrie, genauer das Bäckereigewerbe: Wie könnte eine knappe Ressource wie Frischmehl durch Altbrot ersetzt werden? Damit ein ressourcenschonender Kreislaufgedanke entsteht, Retouren weiterverwertet – sogar eine Qualitätssteigerung erreicht werden kann? Denn Altbrot hat die Eigenschaften, Brot aromatischer zu machen, saftiger und länger frisch. 
 

Das klingt ganz nach einer Renaissance bewährter Ansätze. Die sind oft erklärungsbedürftig und teilweise mit hohem Mehraufwand verbunden. 

Die Wahrheit ist: Für viele Unternehmen rechnet sich dieser Mehraufwand zum Schluss nicht – besser gesagt: noch nicht. Und erfahrungsgemäß geben viele auch direkt auf. Ich bin aber überzeugt, dass diese neuen – beziehungsweise bewährten – Ansätze Fuß fassen werden. Kurz- bis mittelfristig werden sie sogar einen Wettbewerb im Markt darstellen. Das wird sicher interessant.
 

An welchem Punkt wird es für Sie persönlich besonders interessant?

An dem Punkt, an dem es sich plötzlich wieder lohnen wird, diesen Mehraufwand zu betreiben. Denn gewisse Methoden, die in der Vergangenheit verworfen wurden, werden sich wieder rechnen. Es ist ja so: Das Gros des Marktes war bisher auf einer gewissen Kurzlebigkeit der Produkte aufgebaut. Das rührt unter anderem daher, dass es immer ausreichend Ressourcen gab. Nun aber haben wir es mit Ressourcenknappheit zu tun. Es gibt keine zuverlässige Verfügbarkeit mehr. Die Märkte werden lernen müssen, mit ihrem Output, der vertrieblich so gewollt ist, umzugehen. Und auch mit ihrer Art und Weise zu produzieren. Besonders interessant wird es, wenn das Umdenken zum Kostenvorteil wird – mehr noch: zum Wettbewerbsvorteil, der das Überleben des Unternehmens sichert. Je früher Unternehmen also Maßnahmen umsetzen, desto besser. Nicht erst, wenn sie dazu gezwungen werden.
 

Sie nannten das Stichwort “Forecasts”. Welche digitalen Lösungen sorgen denn schon für bessere Planbarkeit statt Verschwendung? 

Um gute Prognosen zu machen, ist die Betrachtung der Vergangenheit essentiell. Grundlage hierzu ist ein gut aufgesetztes digitales Warenwirtschaftssystem. Auf dieser Basis können Tools angebunden werden, die eine Vielzahl von Daten berücksichtigen, die einen aussagekräftigen Forecast ermöglichen. Hierzu gehören saisonale Besonderheiten – wie ein Weihnachtsmarkt in der Nähe des Supermarkts – aber auch temporäre Ereignisse, beispielsweise eine Störung in der Infrastruktur, eine Baustelle in der Nähe oder Ähnliches. Außerdem gilt: Je höher der Umschlag von Produkten, umso besser die Disposition. Das ist zwar aufwändig und komplex – denken wir an verschiedene Varianten eines Produkts, die unterschiedlich abverkauft werden und so auch ins System eingetragen werden müssen. Aber es liefert einfach passgenauere Ergebnisse. Und diese wiederum bilden die Grundlage, um in Zukunft besser agieren zu können.

Nun sind ja Warenwirtschaftssysteme nichts Neues. Woran scheitern Unternehmen und wie können sie die Technologie noch smarter einsetzen?

Ich beobachte, dass die Warenwirtschaftssysteme in Unternehmen oft nicht vollumfänglich implementiert sind. Die Konsequenz ist mangelnde Transparenz: Dem Vertrieb ist oft nicht klar, welche Vorprodukte im Bestand sind. Der Abverkauf misslingt, was unweigerlich zu Verderb und Verschwendung führt. Damit Unternehmen Warenwirtschaftssysteme smart nutzen, müssen zum einen die Daten sauber sein. Sie müssen richtig erfasst und entsprechend bewertet werden. So können auf deren Basis aussagekräftige Forecasts erstellt werden. Klingt logisch, wird aber oft vernachlässigt. Diese Schnittstelle ermöglicht erst, dass aus Erfahrungswerten, also Daten aus der Vergangenheit, dann auch Vorschläge für zukünftiges Handeln abgeleitet werden können.
 

Zukünftiges Handeln schließt zuletzt auch die Endkonsument:innen mit ein. Kann denn die Wirtschaft ihr Konsumverhalten positiv prägen – und wenn ja, wie?

Für kleinere spezialisierte Nischenanbieter geht die Formel bereits auf. Sie haben ein hohes authentisches Potenzial, können mit dem Argument des knappen Guts punkten, das limitiert hergestellt wird. Für große Anbieter auf der Fläche wird es meines Erachtens erst funktionieren, wenn sich der gesamte Markt bewegt. Aber Unternehmen können diese Entwicklung – und damit auch das Konsument:innenverhalten – schon jetzt positiv prägen. Wie? Indem sie die genannten Anreize und greifbare Mehrwerte für ihre Kund:innen schaffen. Das formt zuletzt auch ihr eigenes Image als moderne, verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte Unternehmen. 

Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Bauer.

 

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