Bereits im 28. Monat hat die Weltwirtschaft mit den pandemischen Folgen zu kämpfen. Und nun wächst der Krisenberg aus Lieferkettenstopps, Material- und Personalknappheit weiter: Es drohen hohe Energie- und Materialkosten. Zusätzlich sind Cyber-Attacken zur nächsten großen Herausforderungen avanciert.
“Ein toxischer Cocktail”, fasst Uwe Köstens, Gründungspartner von enomyc, die Situation zusammen. Krise ist sein Geschäft: Seit über 22 Jahren berät er in Mittelstandsfragen. Dabei kennt er die Auswirkungen von Krisen auf die Weltwirtschaft gut.
Aber was macht die aktuelle Situation so einmalig? Wofür genau schärft sie den Blick insbesondere? Und wie können Unternehmen sanfter landen in der neuen Realität, die "Krise" heißt? Ein Interview.
Herr Köstens, Sie haben schon mehrere Wirtschaftskrisen miterlebt. Welche sind Ihnen besonders lebhaft in Erinnerung geblieben und warum?
Zum einen die Ölkrise im November 1973: Ich war damals elf Jahre alt und Profiteur von vier autofreien Sonntagen und sehr hohem Schnee in Hessen. Uns Kindern bescherte das lange Schlittenfahrten über die Hauptstraße unseres Ortes. Die zweite Krise, an die ich mich gut erinnere, war 35 Jahre später: der Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise, verbunden mit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers am 15. September 2008. Mitzuerleben, wie das weltweite Finanz- und Wirtschaftssystem in den Abgrund blickte, die Unklarheit darüber, wohin die Reise gehen würde – das war schon apokalyptisch.
Ziehen Sie aus vergangenen Krisen irgendwelche Schlüsse zur aktuellen Situation?
Kaum eine Krise gleicht der anderen, aber einige Elemente finden sich doch immer wieder. Blicken wir in die Geschichte, dann war beispielsweise die "Große Inflation" vor knapp 100 Jahren von exorbitantem Ausmaß. Es gab Inflationsgeld. Banknoten mit horrenden Summen wurden mit Schubkarren zum Bäcker gefahren, um ein Brot zu kaufen! So weit sind wir heute Gott sei Dank noch nicht, aber die Inflation steigt so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Vor allem die Preise für Lebensmittel und Gas explodieren. Dennoch sprechen wir heute von einer ganz anderen Art der Krise: Sie kommt mit einer nie zuvor dagewesenen Wucht und Komplexität.
Was fällt Ihnen an der aktuellen Krise besonders auf?
Es ist ein toxischer Cocktail aus vielen Faktoren. So toxisch, dass man daran zugrunde gehen könnte. Aber sowohl gesellschaftlich als auch volkswirtschaftlich – sogar an den politischen Parteirändern – herrscht eine seltsame Ruhe. Kein billiger Populismus oder Unruhen trotz einer historisch einmaligen Situation.
Vielleicht ist die Ruhe eher eine Schockstarre?
Das mag sein. Erfahrungsgemäß bauen sich die Auswirkungen von Krisen erst stückweise auf. Der Angriffskrieg Russlands hat vor vier Monaten begonnen. Die Pandemie vor 28 Monaten. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation und ihre Auswirkungen entwickeln.
Sie sprechen von einer einmaligen Komplexität der aktuellen Krise. Was macht sie aus?
Die Vielzahl und die Gleichzeitigkeit der einzelnen Risikofaktoren bedrohen die Geschäftsmodelle in einem nie gekannten Ausmaß. Angefangen von der Pandemie als Auslöser für Materialknappheit und Lieferkettenstopps. Und nun – verstärkt durch den Russland-Ukraine-Konflikt – kommen steigende Energie- und Lebenshaltungskosten hinzu. Weitere Herausforderungen bestehen aus Cyber-Attacken und den zusätzlichen Ausgaben für die entsprechende Sicherheit. Das sind alles sehr ernstzunehmende Risikotreiber in der Wirtschaft.
Welchen Effekt hat das auf bestehende Geschäftsmodelle?
Ich spreche in diesem Zusammenhang von drei verschiedenen Geschäftsmodellen: von gesunden, morbiden und multimorbiden. Zurzeit haben wir es vorrangig mit multimorbiden Geschäftsmodellen zu tun. Eine Krise trifft sie härter als die andere – nicht nur in ihrer Anzahl und ihrer Unvorhersehbarkeit, sondern vor allem auch in ihrer Dynamik. Viele Unternehmen erkennen die vielen externen Sondereinflussfaktoren einfach zu spät. So schrumpft ihr Handlungsspielraum bei Eintritt der Krise enorm. Es kommt zu einer regelrechten Sogwirkung.
Man könnte meinen, der deutsche Mittelstand sei inzwischen Krise gewohnt. Warum ist das Krisenbewusstsein in vielen Unternehmen nach wie vor nicht ausgereift?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Erfahrungsgemäß scheitert es aber oft an zwei Faktoren: Zum einen mangelt es an der Professionalisierung des Finanzwesens von Unternehmen. Zum anderen an der objektiven Wahrnehmung von Risikofaktoren. Viele Unternehmer:innen neigen dazu, Krisen und Risiken subjektiv wahrzunehmen oder sie zu verdrängen.
Welche Maßnahmen helfen?
Die objektive Wahrnehmung: Sie ist untrüglich an Zahlen, Daten und Fakten geknüpft. Und eben diese aussagefähigen, verlässlichen und belastbaren Zahlen schaffen Transparenz. Sind sie sauber geführt, fungieren sie als warnendes System und geben rechtzeitig Aufschluss. Meine Erfahrung zeigt: Es reichen schon maximal zehn Kennzahlen, um ein Unternehmen – egal welcher Größe – zu steuern.
Dennoch, sagen Sie, führen die wenigsten Unternehmen eine integrierte Finanzplanung. Woran liegt das?
Eine integrierte Finanzplanung besteht aus dem Dreiklang GuV-, Bilanz- und Cashflow-Planung. In der Praxis wird die Bilanzplanung allerdings oft außer Acht gelassen. Warum? Weil Bilanzplanungen mühsam in der Erstellung sind. Ich bleibe dabei, keine Cashflow-Planung ohne Bilanzplanung. Die Zahlen müssen mit viel Sorgfalt und Wahrhaftigkeit gepflegt werden. Dafür müssen Unternehmer:innen ihren Betrieb sehr gut kennen.
Was braucht es genau dafür?
Es braucht ein geschärftes Bewusstsein der Unternehmer:innen und es braucht ein hochprofessionelles Finanzwesen in Unternehmen. Eine reliable Zahlenwelt funktioniert dann wie eine gut kalibrierte Alarmanlage. Als Unternehmer:in muss man sich darüber bewusst werden, dass die Zahlen die Geschichte des Unternehmens erzählen. Sie bilden das Leben des Unternehmens ab. Jeden einzelnen Vorgang: vom Einkauf über die Lagerung, von der Produktion bis zum Verkauf. Eine Umsatzzahl verkörpert demnach alle vorhergehenden Prozesse und Themen, die bearbeitet wurden. Umso wichtiger sind Zahlen, Daten und Fakten in der Krise: Denn gerade in Krisen, die von externen Einflussfaktoren ausgelöst werden, muss der Blick unweigerlich nach innen gehen. Und hier geben die Zahlen Aufschluss. Sie machen den Status des Unternehmens in aller Deutlichkeit klar und lassen rechtzeitig Handlungsempfehlungen ablesen.
Außer sauberen Finanzen erfordern die zahlreichen externen Sondereinflussfaktoren, mit denen Unternehmen jetzt zu kämpfen haben, auch ein verändertes Mindset. Was denken Sie: Welche Anforderungen werden aktuell an Manager:innen gestellt und auf welche Eigenschaften kommt es jetzt vorrangig an?
Ich denke, Unternehmer:innen agieren heute definitiv anders, als vor zehn oder 15 Jahren. Im Grunde haben uns bereits die vergangenen zweieinhalb Jahre vor Augen geführt, dass Entscheidungen nicht länger in gewohnter Manier getroffen werden können. Die teils hochkomplexen Krisen folgen dicht aufeinander und setzen Unternehmen unter Druck. Das Tempo von Veränderungen hat stark zugenommen. Für Manager:innen bedeutet das höhere Anforderungen. Sie müssen wesentlich komplexere Entscheidungen in schmaleren Zeitfenstern treffen und dennoch gute Ergebnisse liefern. Ich denke, Wachsamkeit und Widerstandsfähigkeit sind da sehr wichtige Eigenschaften. Aber eben auch in der Lage zu sein, die neuen Umstände auf sich wirken zu lassen und Entscheidungen mit einem gewissen Maß an Ruhe zu fällen.
Was halten Sie heute vom autofreien Sonntag?
Er würde mich nicht schocken. Ich habe ihn erlebt und er würde sicher auch wieder funktionieren. Den Schlitten würde ich allerdings in Hessen stehen lassen und dafür Zeit in Hamburg, Berlin oder an der Ostsee verbringen.