Noch ist es technisch nicht so weit, aber lange dürfte es nicht mehr dauern, bis sich Deutschland „offiziell“ in einer Rezession befindet. Das Land steht, so der Tenor vieler Ökonomen, vor einer großen Pleitewelle. Vor allem junge, innovative Unternehmen seien wegen fehlender Rücklagen, hoher Energiepreise und durch den Nachfrageeinbruch akut bedroht. Doch hält diese Prognose einer genaueren Betrachtung Stand?
Als Beweis für die These von der Pleitewelle werden unter anderem die zuletzt im September deutlich gestiegenen Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften angeführt. In diesem Zeitraum war die Zahl im Vergleich zum Vorjahresmonat um 34 Prozent auf 762 gestiegen.
Zuletzt war während und nach den Lockdowns in der Corona-Pandemie mit einer großen Pleitewelle gerechnet worden. Eingetreten ist sie nicht. Ganz im Gegenteil: Wir befinden uns bereits länger in einer Phase historisch niedriger Insolvenzzahlen. 2021 markiert sogar den tiefsten Stand seit 1993. Im Zeitraum von 1999 bis 2021 meldeten im jährlichen Durchschnitt rund 28.000 Unternehmen Insolvenz an, im vergangenen Jahr waren es rund 14.000. Selbst wenn sich dieser Wert in den kommenden Monaten verdoppeln sollte, wird damit lediglich der Durchschnittswert der früheren Jahre erreicht. Von einer „Welle“ kann also kaum die Rede sein.
Sonderfaktoren haben den nötigen strukturellen Wandel kaschiert
Daran, dass die Zahlen in den nächsten Wochen und Monaten deutlich steigen werden, besteht allerdings kein Zweifel. Die Gründe sind vielfältig. Sie lassen sich auf die Formel „Sonderfaktoren plus struktureller Wandel trifft auf Zinswende“ bringen.
Zu den Sonderfaktoren zählen etwa die Corona-Pandemie, aber auch der Ukraine-Krieg. Trotz aller Schwierigkeiten für die Unternehmen haben sie sich zunächst wirtschaftlich positiv ausgewirkt, und zwar insofern, als sie die Anforderungen des strukturellen Wandels inzwischen seit Jahren erfolgreich überdeckt haben. Welche Anforderungen sind das? Zum einen die Umstellung auf ein klimafreundliches Wirtschafts- und Geschäftsmodell, zum anderen die seit Jahren wirksame digitale Transformation, die mit der Veränderung von Geschäftsmodellen insgesamt einher geht.
Doch der Reihe nach: Wie greifen die verschiedenen Ursachen Schritt für Schritt ineinander?
Die bereits genannten Sonderfaktoren, hauptsächlich die Corona-Krise, haben zunächst weltweit für einen Nachfrage-Schock gesorgt. Dieser wurde in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, durch staatliche Förderprogramme weitgehend kompensiert. Gleichzeitig hat der COVID-bedingte Lieferketten-Schock das Angebot dramatisch verknappt. Diese Verknappung führte bei gleichbleibender Nachfrage dazu, dass die Preise stiegen. Unter Hinweis auf die gestörten Lieferketten und weil es für die meisten Nachfrager entscheidend war, überhaupt Ware zu erhalten, war die Preiserhöhung am Markt auch leicht durchsetzbar. Diese kausale Kette führte dazu, dass die meisten Unternehmen bislang weitgehend stabile Ergebnisse erzielen konnten.
Die Zinswende markiert den Wendepunkt
Die forcierte Zinspolitik der FED sowie die jüngsten Zinsentscheidungen der EZB markieren den entscheidenden Wendepunkt in dieser Entwicklung. Mit der harten Rücknahme der lockeren Geldpolitik innerhalb eines kurzen Zeitraumes als Mittel zur Inflationsbekämpfung sind die Zinsen in diesem Jahr bereits deutlich gestiegen. Zusätzlich haben die Auswirkungen des Ukraine-Krieges (Energieknappheit, steigende Preise, Inflation) und die Eskalation in China das Risikobewußtsein in Wirtschaft und Politik, aber auch bei den Verbrauchern, deutlich steigen lassen. Die Folge: Es kommt, ähnlich wie zu Beginn der Corona-Pandemie, zu einem Einbruch der Nachfrage. Anders als zu Beginn der Pandemie, in der der Nachfrageeinbruch in einem deflationären Umfeld nahezu vollständig staatlich kompensiert wurde, wird der jetzige Nachfragerückgang nur mit gezielter staatlicher Unterstützung flankiert. Diese hat weniger eine Kompensation der Nachfrage zum Ziel als die Eindämmung des inflationären Umfeldes. Im Zuge der großen weltpolitischen Unsicherheit und inflationsbedingt halten die Menschen ihr Geld lieber zusammen als es auszugeben.
Diese Kaufzurückhaltung trifft nun auf schrittweise wieder funktionierende Lieferketten – mit der Folge, dass zukünftig die Preise nicht mehr ungefiltert auf den Endkunden abgewälzt werden können. Bei gleichzeitigem Anstieg der Kostenbasis werden Unternehmen zunehmend mit sinkenden Margen und Ergebnissen konfrontiert werden, auch, weil sie kaum oder nur bedingt Preisdurchsetzungsmacht haben und weil ein Ausweichen auf andere Märkte nicht möglich ist. Hinzu kommt: Die Strukturkosten, etwa im Zuge der Digitalisierung und durch Klimaschutzauflagen, werden weiter steigen.
Diesmal könnte es das Rückgrat der deutschen Wirtschaft treffen
Sorge über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist also nicht unbegründet. Denn nach meiner Überzeugung wird es diesmal, anders als früher, eine ganz bestimmte Gruppe von Unternehmen besonders hart treffen. Ein Blick auf die Insolvenzzahlen der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass statistisch knapp die Hälfte der zahlungsunfähigen Firmen zum Dienstleistungsbereich zählte, gefolgt von 20 Prozent aus dem Handel und rund 8 Prozent aus dem verarbeitenden Gewerbe. Neun von zehn betroffenen Unternehmen hatten bis zu 10 Mitarbeiter, nur 40 Prozent der Unternehmen waren älter als 10 Jahre.
Diese Struktur dürfte sich in den nächsten Monaten deutlich ändern. So rechnen wir mit einem massiven Anstieg der Insolvenzen im verarbeitenden Gewerbe sowie bei Firmen, die älter als zehn Jahre sind – und damit im Herzen des deutschen Mittelstands. Weil diese Unternehmen die meisten Beschäftigten in Deutschland haben, könnte es zu einem deutlichen Abbau von Arbeitsplätzen kommen.
Auch aus Sanierungsperspektive ist die Entwicklung bedenklich. Denn obwohl uns mittlerweile eine ganze Reihe an guten Werkzeugen zur gerichtlichen und außergerichtlichen Sanierung zur Verfügung steht, wird die Zahl der Unternehmensliquidationen weiter steigen. So fehlen unter anderem feste Parameter, an denen sich die Beteiligten – auch die Banken – im Rahmen des immer komplexeren Sanierungsgeschehens orientieren können. Das Risiko: Viele der von Insolvenz bedrohten Arbeitsplätze werden diesmal nicht zu retten sein. Das Risiko einer schleichenden Deindustrialisierung Deutschlands ist damit nicht mehr von der Hand zu weisen.
Apropos Banken. Für sie ist die Entwicklung Fluch und Segen zugleich. So werden einerseits die Abschreibungen auf Kreditengagements deutlich steigen, was die Margen negativ beeinflusst. Andererseits macht sich der Zinsanstieg positiv bemerkbar. Ob die Entwicklung insgesamt eher positiv oder negativ zu Buche schlägt, ist derzeit noch nicht absehbar. Klar scheint dagegen, dass sich das Neukreditengagement der Banken eher selektiver entwickeln dürfte. Das wird Sanierungen zusätzlich erschweren und ein stärkeres Engagement der Gesellschafter erforderlich machen. Erfolgt dieses nicht, ist die Insolvenz bei vielen Unternehmen am Ende gegenüber der außergerichtlichen Sanierung die wahrscheinlichere Option.
Wie kann die Politik in dieser Situation unterstützen? Sie sollte meines Erachtens unter anderem ihre ambitionierten Klimaziele überdenken, um den Unternehmen Zeit zur Bewältigung der aktuellen Krise zu geben. Danach stehen umfangreiche strukturelle Investitionen an, die längst nicht alle werden stemmen können. Die Politik sollte insbesondere mittelständische Firmen bei der Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen durch Sonderförderprogramme stärker entlasten. Nicht rückzahlbare Zuschüsse sind hier zielführender als klassische Kredite.