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Die Pandemie hat wie ein Katalysator auf die Implementierung digitaler Prozesse in Unternehmen gewirkt. Abgesehen von enormen IT-Anschaffungen und dem neuen Erlernen digitaler Anwendungen, dringt New Work immer weiter durch: ein struktureller Change in der Arbeitswelt, wie wir sie bisher kannten. Remote Work und Homeoffice: Was sonst eine Ausnahmeregelung war, wird zunehmend zum Mainstream. 

Nun, wo durch den Impffortschritt die vermeintliche Normalität zurückkehrt, ist immer öfter von Cases zu hören, bei denen die Mitarbeiter:innen auch post-pandemisch lieber im Homeoffice weiterarbeiten möchten. Was sind die Chancen und wo liegen die Grenzen des Remote Managements? Kann ein Hybrid zwischen New Work- und Präsenzkultur gelingen? Und wenn ja: Welche Distance Leadership Skills sind ein Muss? Ein Interview mit unserem Head of HR Dr. Axel Hermeier.

 

Axel, wir führen dieses Gespräch beide aus dem Homeoffice. Ist das schon New Work? 

Es ist lediglich ein Aspekt von New Work, der besagt, dass räumliche Nähe nicht unbedingt erforderlich ist, um gemeinsam im Team und produktiv zu arbeiten.  

Was ist New Work in seiner Gänze? 

Es ist ein Konzept, das Frithjof Bergmann bereits Mitte der 70er Jahre entwickelte. Seine Kurzversion bringt es für mich auf den Punkt: New Work ist die Arbeit, die ein Mensch wirklich will. Bergmann verbindet damit Werte wie Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft. Das sind die wesentlichen Charakteristika dieser “neuen” Form der Arbeit. Letztendlich ist es aber so, dass New Work in der heutigen Zeit als eine Art Sammel- oder Oberbegriff benutzt wird. Etwas breiter gefasst, wird er heute als Synonym für jegliche Veränderung der Arbeitswelt verwendet. So wie “Arbeitswelt 4.0”. Wegen der Pandemie hat New Work an mehr Aktualität denn je gewonnen.

Es mussten viele Aspekte des New Work Konzepts quasi über Nacht angewendet werden. Was verlangt New Work Unternehmen ab?

Sehr viel. Eine wesentliche Herausforderung ist, neue Konzepte für die Dimensionen Zeit, Raum und Organisation zu entwickeln. Was heißt das genau? Die lange gelebte Bindung an feste Arbeitsorte, standardisierte Arbeitszeiten und fixe Organisationsstrukturen löst sich immer weiter auf. Darauf müssen die Unternehmen entsprechende Antworten finden und einen Rahmen aufstellen, in dem die Organisation und die Mitarbeiter:innen bestmöglich performen können. New Work ist also kein Projekt, was eingeführt wird und gut: Es ist vielmehr ein Thema auf der kulturellen Ebene. Es entspricht einer Haltung, einer Einstellung und deshalb ist New Work nicht zuletzt auch eine Führungsfrage.

Wie formt New Work die Arbeit der Führungskräfte? Und welche Komponenten machen Distance Leadership einfacher? 

Für mich ist es das Wichtigste, dass Vertrauen als Führungsstrategie der Zukunft verstanden und letztendlich auch akzeptiert wird. Eine Kontrollkultur – Mikromanagement – lässt sich im New Work-Kontext nicht mehr aufrechterhalten. Dementsprechend ist es für Führungskräfte von essentieller Bedeutung, ihren Mitarbeiter:innen die notwendige Orientierung zu geben, den notwendigen Halt und auch die notwendige Zeit für den persönlichen Austausch. Sie sollten für Probleme und Fragen immer oder weitestmöglich zur Verfügung stehen. Will man Mitarbeiter:innen aus der Distanz führen, ist Beziehungspflege unerlässlich.

Vertrauenskultur statt einer kontrollierenden Unternehmenskultur: Das ist für viele Führungskräfte eine Gratwanderung. Und auch nicht ganz leicht, zu erlernen. Was hilft? 

Dafür gibt es natürlich kein Patentrezept. Corona hat viele Führungskräfte völlig alternativ- und ausweglos über Nacht in diese Situation hinein befördert. Dementsprechend galt es, sich damit zu arrangieren. Den einen fällt es leichter, den anderen schwerer. Zukunftsgerichtet zeigt sich aber auch, wer für Distance Leadership geeignet ist, wer ein Digital Leader sein kann und wer nicht. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob man das Rad wieder zurückdrehen kann: Es lässt sich nicht zurückdrehen. Dementsprechend ist Distance Leadership eine kritische Führungseigenschaft, die unvermittelt an Bedeutung gewonnen hat. Und in Zukunft noch stärkere Bedeutung haben wird. Entweder lernen Führungskräfte damit umzugehen oder sie sind als Digital Leader nicht die Richtigen.

Klingt, als würden Distance Leadership Skills bald ein Kriterium in Stellenausschreibungen sein. 

Ganz sicher sogar. 

Vertrauen statt Kontrolle: Welche Vorteile hat dieser Ansatz? Gibt es eine Erfolgsmessung, die das auch in Zahlen klarmacht?

Viele empirische Daten, inwieweit sich diese Kultur in monetären Effekten positiv auf Unternehmen auswirkt, gibt es noch nicht. In der qualitativen Interpretation werden aber unterschiedliche Punkte als Benefits genannt. Zunächst einmal Prozessgeschwindigkeit. Damit verbunden das Potenzial, Kosten zu reduzieren. Vereinfacht gesagt: weniger Reisen – mehr Zeit. Und dadurch wiederum mehr Produktivität. Die digitalen Formate machen das möglich. Weitere Vorteile auf der Seite der Mitarbeiter:innen sind insgesamt weniger Stress, weniger Krankheitstage, weniger Burnouts und letztendlich auch eine verbesserte Employee Experience – im Sinne von mehr Zusammenhalt und einer höheren Loyalität gegenüber dem Unternehmen. Am Ende aber hängt es im Kern wirklich davon ab, wie das Unternehmen das Konzept ausgestaltet und die möglichen Vorteile auch materialisiert.

Welche Führungsqualitäten sind ein absolutes Muss im Distance Leadership? 

Die Fähigkeit, zu vertrauen und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Das ist für mich die Grundlage. Mit diesem Vertrauen geht ein hohes Maß an Interesse und Empathie für die Mitarbeiter:innen einher. Es ist erfolgskritisch, die Stärken und Schwächen der Mitarbeiter:innen zu kennen. Oder spätestens dann zu erkennen, wenn es darum geht, trotz der Distanz, die richtigen Aufgaben und Verantwortlichkeiten zuzuweisen. Das geht nur auf, wenn Führungskräfte die individuellen Stärken und Schwächen ihrer Teams kennen. Ein weiteres Muss ist die Fähigkeit, klare Ziele zu formulieren und zu kommunizieren sowie die entsprechenden Rahmenbedingungen zur Erfüllung der Aufgaben zu schaffen. Eine absolut erfolgskritische Fähigkeit.

Auch die Arbeitnehmer:innen sind gefordert. Vor welche Herausforderungen hat die neue Situation sie gestellt? 

Ein konkretes Resultat von flexiblen Arbeitszeitmodellen und Homeoffice ist neudeutsch überschrieben mit dem Begriff “Work-Life-Blending”. Es geht also nicht mehr um das alte Mantra “Work-Life-Balance” – das Ausbalancieren zwischen Arbeiten einerseits und Privatleben andererseits. Nun geht es darum, dass New Work die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen lässt.

Ist das positiv oder negativ? 

Das ist im Zweifel individuell verschieden. Aber letztendlich, wenn man auf das Kernkonzept von New Work zurückgeht, geht es ja darum, einer Arbeit nachzugehen, die einen erfüllt, die sinnstiftend für eine:n persönlich ist und die man mit einem möglichst hohen Flexibilitätsgrad ausüben kann: räumlich und zeitlich. Dass beispielsweise an manchen Tagen der Weg ins Office ausfällt, kann Familie und Beruf besser in Einklang bringen. Meetings und Arbeitspakete können so organisiert werden, dass auch private Belange in den Tageskalender integriert werden können und wenn abends zu Hause Ruhe einkehrt, kann die Projektarbeit fortgeführt werden. 

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit das gut geht?

Die Voraussetzungen sind sicherlich eine gewisse Veränderungsbereitschaft, Agilität und IT-Kompetenz. Außerdem ein gewisses Maß an Selbstmanagement, denn die größeren Freiheitsgrade bringen auch ein höheres Maß an Entscheidungsfähigkeit mit sich. Und die wiederum ist erfolgskritisch für jede:n einzelne:n Mitarbeiter:in. Schließlich muss der Freiraum und das eigenverantwortliche Arbeiten mit guten Ergebnissen belegt werden.

Vieles ist möglich im Remote Management, aber sicher gibt es auch Grenzen. Was deckt Distance Leadership nur bedingt ab? 

Hier gibt es mehrere Dimensionen. Ich werde drei nennen: In unserer Branche ist die erste Dimension die Interaktion mit den Kund:innen – vom ersten Kontakt bis zur konkreten Projektarbeit. Digitale Tools tragen zum Erfolg bei, gar keine Frage, aber ab einem gewissen Punkt ist es aus meiner Sicht unabdingbar, sich persönlich gegenüber zu sitzen und sein Gegenüber ganzheitlich wahrzunehmen.

Welche ist die zweite Dimension? 

Die zweite Dimension betrifft mich direkt als Head of HR: Talent Acquisition und Recruiting. Hier spielen Gestik, Mimik und die zwischenmenschliche Chemie eine wesentliche Rolle. Das sind alles Aspekte, die zweidimensional auf dem Screen – vielleicht noch zusätzlich mit technischen Einschränkungen – doch sehr reduziert sind. Auf dieser Basis solide Entscheidungen zu treffen, geht meines Erachtens nicht gut. Dasselbe gilt für Krisengespräche. Kein Videocall kann hier die persönliche Begegnung ersetzen.  

Kommen wir zur dritten Dimension: 

Die dritte Dimension bezieht sich auf die Interaktion mit den Mitarbeiter:innen. Büros sind Orte der Begegnung und eine wesentliche Quelle für Kreativität und Innovation. Das wird im Wesentlichen dadurch bedingt, dass man sich auch ungeplant im Flur oder in der Küche über den Weg läuft. Und auch kurzfristig die Chance nutzt, Themen zu diskutieren und zu entscheiden. Häufig entstehen so Ideen, die in einem geplanten, strukturierten Setting per Videokonferenz gar nicht entstanden wären. In allen drei beschriebenen Bereichen gibt es aus meiner Erfahrung, über die letzten 15 Monate hinweg, eine gewisse Grenze zwischen digital und real.  

Was ist am Ende die Lösung? 

Aus meiner Sicht ist es kein gutes Konzept, das Homeoffice zu 100 Prozent der 100-prozentigen Präsenzkultur als “Entweder-Oder” gegenüberzustellen. Aber: Ein intelligenter Hybrid kann die Lösung sein.  

Tim Cook, der CEO von Apple, rief seine Mitarbeiter:innen kürzlich auf, ab September – für drei Tage pro Woche – ins Office zurückzukehren. Ein Hybrid. Der aber einen “Push-back” zur Folge hatte, berichtete The Verge. Viele Mitarbeiter:innen forderten eine noch flexiblere Herangehensweise. Was würdest Du Tim Cook raten?

Ich würde jedem Unternehmen raten, die Ausgangssituation, die Rahmenbedingungen und Erfordernisse individuell für sich zu analysieren und daraus letztendlich ein eigenes Konzept zu entwickeln. Über all dem sollte aber das Thema Erhöhung der Flexibilität stehen. Was mich wieder zur New Work-Idee zurückführt: Um eine Win-Win-Situation zu erzeugen, muss letztendlich das Ziel sein, die Bedürfnisse des Unternehmens einerseits und die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen andererseits sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Tim Cooks Konzept ist ein Hybrid – drei Tage so, zwei Tage anders. Wird das aber starr angewendet, wird es der neuen Situation der Mitarbeiter:innen und des Unternehmens nur unzureichend gerecht.  

Besser wäre? 

Besser wäre, zum Beispiel, von festen Zeitkontingenten zu reden, die flexibel ausgeschöpft werden können. Denn am Ende brauchen Unternehmen natürlich auch eine gewisse Planbarkeit.  

Macht ein Hybrid auch im Business Consulting Sinn?

Davon bin ich überzeugt: Gerade im Consulting, im People's Business, ist es unabdingbar, dass man persönliche Begegnungen kreiert und persönliche Kontakte ermöglicht –  innerhalb des Unternehmens und im Austausch mit Kund:innen und Stakeholdern. Man sollte aber auch, im Sinne eines Hybrid-Modells, die Vorteile der Digitalisierung im New Work intelligent ausschöpfen und dementsprechend das traditionelle Arbeiten sinnvoll durch die neuen Punkte ergänzen. Schließlich haben auch Kund:innen und Geschäftspartner:innen denselben Transformationsprozess durchlaufen.

Vielen Dank für Deine Insights, Axel.



Weitere konkrete Handlungsempfehlung zu den Themen "Distance Leadership" erhalten Sie auch im
Interview "Führen in der Krise" mit Bessie Fischer-Bohn. Als Blogpost zum Lesen oder auch direkt ins Ohr im enomyc Podcast. 

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