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Während Deutschland zu Hause emsig Stoffmasken näht, zwingen geschlossene Stores, unterbrochene Lieferketten, Personalkürzungen und eine sinkende Kaufkraft den Modemarkt in die Knie. Es war allerdings schon vor der Corona-Krise kritisch um die Fashion-Branche bestellt: Welche Fehler aus der Vergangenheit fallen Modeunternehmen nun auf die Füße? 

Es ist Zeit, dass die Modebranche einen prüfenden Blick in den Spiegel wirft, finden Dr. Christian Gerloff von Gerloff Liebler Rechtsanwälte und Dr. Michael Meister, Director bei enomyc. Wie wird der stationäre Handel in Zukunft aussehen? Welche Hürden muss die Modebranche dafür nehmen und wie sollten mittelständische Unternehmen die Branchenbereinigung jetzt nutzen?

Erfahren Sie mehr in unserem Experten-Interview.

 

Dr. Meister, sie sind seit 10 Jahren Consultant bei enomyc und haben zuvor viele Jahre in der Textilbranche gearbeitet. Wie sehen Sie die aktuellen Entwicklungen?
MM: Wer sich die Fundamentaldaten angeschaut hat, weiß: Um den deutschen Mittelstand im Bereich Fashion war es schon vor der Corona-Krise kritisch bestellt. Durch die Corona-Krise ist die Situation jetzt noch einmal deutlich verschärft worden. Für viele Unternehmen wird sie den Knock-Out bringen. 

Welche Fundamentaldaten waren denn schon vor 2020 nicht mehr in Ordnung?
MM: Es wurde immer zu viel von der positiven Gesamtmarktentwicklung berichtet und suggeriert, jedes Unternehmen könne partizipieren, wenn es das nur richtig anstellen würde. Das ist falsch. Vielmehr ist es so, dass von dieser positiven Gesamtmarktentwicklung viele Mittelständler per se ausgeschlossen waren. Die Anzahl der Unternehmen im deutschen Bekleidungseinzelhandel hat sich seit der Jahrtausendwende mehr als halbiert. Dies ging insbesondere auf Kosten des traditionellen Fachhandels, der Marktanteile an vertikale Anbieter, Discounter und an das E-Commerce verlor. Dies wird sich 2020 und auch in den Folgejahren forciert fortsetzen.

Wozu führte die Verschiebung der Absatzkanäle?
MM: Sie führte dazu, dass viele Mittelständler versuchten, die Umsatzabschmelzungen über alternative Kanäle zu kompensieren. Vielen Unternehmen ist dieses auf der Top-Line auch tatsächlich gelungen, dabei ist jedoch häufig der Ertrag auf der Strecke geblieben. Offensichtlich ist dieses bei der Umsatzausweitung über Outlets und Factory Sales. Es gibt wenige Unternehmen, die es schaffen den Absatz über diesen Kanal profitabel zu gestalten. Wer es kostenneutral schafft, macht es bereits gut – die meisten Unternehmen aber erwirtschaften über diesen Weg Fehlbeträge.

Dr. Gerloff, Sie sind ein Branchenkenner und sehr erfahren in Insolvenzfällen von Modeunternehmen. Aktuell verwalten Sie Laurèl und begleiten Hallhuber beim Schutzschirmverfahren in Eigenverwaltung. Welche Fehler haben die großen Modeunternehmen Ihres Erachtens schon in der Vergangenheit gemacht?
CG: Für mich gibt es zwei Themen, die besonders hervorstechen: Thema Nummer 1 betrifft die viel zu großen Expansionen von zahlreichen Unternehmen. Schaut man sich allein die letzten 20 bis 30 Jahre an, so stellt man eine viel zu expansive, teilweise sinnlose Ausweitung fest – mit Shoppingmalls, Outlet-Centern, Flächenerweiterungen in den Städten, zusätzlichen Einkaufsstraßen. Die Unternehmen versprachen sich von der Expansion einen Zugewinn an Marktanteilen. Mittlerweile aber sind die Marktanteile mehr oder weniger gleich geblieben – bloß der Markt ist größer geworden. Gleichzeitig müssen die Verkaufsflächen aber bespielt werden.

Was bleibt am Ende des Tages? Nehmen wir ein früher hoch profitables Unternehmen wie es Gerry Weber war: Seine Expansion führte es zuletzt in die Krise. Das ist bei vielen anderen Unternehmen genauso: Durch die Expansion bleiben nicht mehr viele betriebswirtschaftliche Modelle übrig.

Welches wäre das zweite Thema?
CG:
Die Expansion geht auf Kosten der Qualität und des Modegrades. Man hat ja schließlich in die Expansion investiert – nicht aber ins Produkt. Mode ist – gerade im Mittelsegment – dadurch günstig, austauschbar und zunehmend einer gewissen Beliebigkeit unterworfen. Sie ist langweilig geworden, die Highlights fehlen. Das Besondere – die Mode für spezielle Anlässe – ist verlorengegangen.  

Das Resultat: Die Markenbindung findet fast nicht mehr statt. Im Kaufhaus erkennen Konsumenten die Marken nicht ohne aufs Label zu schauen. Überlegen Sie, welches Kleidungsstück Sie zuletzt gekauft haben, das Ihnen wirklich in Erinnerung geblieben ist. Bei diesen Entwicklungen wundert es also nicht, dass Verbraucher es vorziehen, eher in gutes Essen zu investieren, statt in teure Kleidung.

Was wird die Zukunft für die Modebranche bringen?
CG: Ich denke, es wird eine Marktbereinigung geben, die auch durchaus schon lange anstand. Sie wird jetzt nur durch Corona beschleunigt. Es werden Player vom Markt verschwinden. Diese Beliebigkeit, von der ich sprach, wird sicherlich dazu führen, dass Flächen zurückgefahren werden müssen. Das wird ein schmerzhafter Anpassungsprozess werden. Das ist aber eine Tatsache: Wir werden Kapazität aus diesem und vielen anderen Märkten rausnehmen müssen. Nehmen wir die Lufthansa: Sie sagt, sie werde nach der Krise 20 bis 30 Prozent weniger Kapazität benötigen. Das wird riesige Auswirkungen für Unternehmen haben. Ohne schmerzliche Folgen wird das nicht möglich sein. Wir rechnen mit einer hohen Arbeitslosigkeit, die wiederum weniger Kaufkraft und auch weniger Kauffreude zur Folge haben wird. Dies wird sich auf den stationären und auch auf den Online-Handel niederschlagen. Es fehlt die Innovation. Jetzt müssen wieder innovative Geschäftsmodelle entwickelt werden!

Werden die großen Multilabel-Kaufhäuser überhaupt noch benötigt?
CG: Ich denke, es werden sich neue Geschäftsmodelle entwickeln und diese Frage wird sich stellen. Den stationären Handel wird es weiterhin geben und die großen Händler haben dabei den Vorteil, dass sie Kombinationsfähigkeit unterschiedlicher Marken und Outfits bieten. Dieses Konzept funktioniert allerdings nur über die persönliche Beratung und ich beobachte, dass der Handel in der Krise Personal von der Fläche nimmt und das Marketing stark drosselt. Davor warne ich. Der Handel verliert so seinen Vorteil eigentlich komplett. Er besteht ja vielfach aus Marketing und persönlicher Beratung. Wenn ich also von der Schärfung der Marke spreche, so gehört das Marketing unbedingt dazu. 

Dr. Meister, was denken Sie: Wie sollten mittelständische Unternehmen mit der Branchenbereinigung umgehen?

MM:
 Wer agiert, ist im Vorteil. Aus meiner Sicht gibt es für Unternehmen aus dem Mittelstand grundsätzlich zwei Optionen. Option Nr. 1 ist die Konzentration und der Fokus auf das eigene Produkt: Für gut gemachte Nischenprodukte, Spezialisierung und Profil wird es in der Fashion-Branche immer Platz geben. Zwei Fragestellungen, die es hier zu beantworten gilt, lauten: Hat die Marke hierfür das Potenzial? Reichen die finanziellen Mittel, um durchzuhalten? Können beide bejaht werden, stellt sich die Frage, ob das Unternehmen transformiert werden kann. Neben der Möglichkeit, das Unternehmen auf ein niedrigeres passendes Kostenniveau zu transformieren, ist zu prüfen, ob es die erforderlichen Capabilities hat. Darunter fallen unter anderem Flexibilität, Agilität und Online-Kompetenz.


Dr. Michael Meister Director enomyc
Wie lautet die zweite Option?
MM: M&A – der Verkauf des Unternehmens. Fashion ist ein Thema für Strategen, für Private Equity und für Family Offices. Ich glaube, dass es für eine substanzielle Anzahl von Unternehmen der beste Weg sein wird, hier proaktiv tätig zu werden.

Herr Gerloff, Sie sprachen an, dass die Innovation fehle und innovative Geschäftsmodelle entwickelt werden müssten. Was für Geschäftsmodelle könnten das sein? Gibt es bereits Konzepte, die in Richtung Zukunft weisen?

CG: Es gibt immer gewisse Ansätze. Ich glaube allerdings, es hat sich noch nicht durchgesetzt, dass die bestehenden Strukturen der Fashion-Branche nicht mehr zeitgemäß sind. Es werden vielleicht auch neue Marken hervorgehen müssen: Blicken wir auf Marken wie Escada, Rena Lange, Strenesse: Sie sind in Deutschland groß geworden, waren hochmodern und brachten es zu weltweitem Ruf. Was haben wir dagegen in den letzten zehn oder 20 Jahren Neues hervorgebracht? Es stellt sich die Frage, ob es auf der einen Seite notwendig ist, dass etwas abstirbt, damit auf der anderen Seite vielleicht wieder etwas Neues entsteht.

Dr. Christian Gerloff
Sie sprechen von nicht mehr zeitgemäßen Strukturen. Was für welche sind das und wozu raten Sie im Gegenzug?
CG: Die großen Hersteller haben vier Kollektionen im Jahr – die zwei Main-Kollektionen Sommer und Winter – daneben die kleineren: Frühling und Herbst. Diese Kollektionen werden teilweise anderthalb Jahre vor dem Verkauf entwickelt. Gäbe es aktuell nicht Corona, so würden jetzt – in der zweiten Maihälfte – die ersten Themen der Herbstkollektionen ausgeliefert werden. Das ist alles nicht mehr zeitgemäß. So geht die Reaktionszeit verloren! Ziehen sich beispielsweise sommerliche Temperaturen bis in den Oktober, passt einfach die ganze Planung nicht mehr. Braucht man im Mai die Herbstkollektion? Das ist Irrsinn. Es wird zu früh ausgeliefert, was auf Dauer das Geschäft zerstört.

Die Branche muss sich hinterfragen und feststellen, ob die Strukturen, die sie verfolgt, überhaupt noch zu den Entwicklungen – auch vor Corona – passt. Ich würde mir wünschen, dass sie die aktuelle Phase – diese circa zwei Monate Shutdown – auch zukünftig blockt. So kämen wir der Sache wieder näher und die entsprechenden Kollektionen würden folglich dann auf dem Bügel hängen, wenn der Verbraucher sie auch benötigt. 

Herr Meister, wie verhält es sich eigentlich im E-Commerce?
MM: Über den eigenen Online Shop rechnet es sich für viele Unternehmen. Hier ist die Top-Line aber begrenzt und lässt sich nur mit unverhältnismäßig hohem Marketing-Aufwand steigern. Aus diesem Grund tendieren viele Unternehmen in einem weiteren Schritt dazu, die Top-Line über Plattform-Deals auszubauen – hier haben wir noch kaum ein Unternehmen gesehen, das bei einer genauen und ehrlichen Betrachtung Erträge erwirtschaftet – diese Bemühungen dienen folglich dazu, die Umsatzabschmelzungen in anderen Kanälen zu kaschieren. 

Wie stehen hier die Chancen für die Zukunft?
MM: E-Commerce wird auch in den nächsten Monaten der aktuellen Krise an Bedeutung gewinnen. Auffällig ist allerdings, dass selbst hier die Umsätze in den letzten Wochen rückläufig waren. Für Unternehmen gilt es daher, sich hier professionell aufzustellen. Für die Top-Line wird das aber nicht die Lösung sein. Konkrete Lösungsvorschläge sind hier immer nur vor dem Hintergrund des einzelnen Unternehmens möglich. 

Herr Gerloff, welche Leitfragen und Handlungsempfehlungen würden Sie gern dem stationären Handel mitgeben?
CG: Für mich geht es in erster Linie um zwei Komponenten. Lange wurde – zu Lasten des Produkts – nur in die Expansion investiert. Darunter haben das Produkt und die Produktqualität stark gelitten. Deswegen rate ich: Investieren Sie wieder in Ihr Produkt! Der modische Grad muss wieder geschärft werden. Produkt und Marke müssen zusammenpassen. Die Stärke des stationären Handels liegt in der persönlichen Modeberatung der Kunden – also ganz klar in den Persönlichkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ich rate zusätzlich auch zu technischen Innovationen beim Einkauf, um Shopping zum Erlebnis zu machen. 

Die zweite Komponente birgt die Leitfrage: Was für eine Supply Chain habe ich? Darunter fällt auch: Woher beziehe ich meine Ware? Wo lasse ich produzieren? Viele, die sich rein aus Asien beliefern lassen, merken nun, dass ihre Lieferketten viel zu lang sind. Ehe die Ware ankommt, ist sie allein sechs Wochen auf dem Schiff. Insofern wird es sicherlich eine Hinwendung zu Ländern wie der Türkei, Bulgarien und Rumänien geben. Das geht einfach schneller. 

Ich rate allerdings dazu, auch politische Unruhen dieser Länder in der Planung miteinzubeziehen. Dass die Produktion nach Deutschland zurückverlagert wird, glaube ich nicht. Ein Mix macht allerdings Sinn. Das gesamte System wird flexibler werden müssen und reaktionsschneller: Bleibt der Sommer länger, muss eben andere Ware entwickelt und ebenso schnell ausgeliefert werden können.

Dr. Meister, welche Hürden werden mittelständische Unternehmen aktuell und vorausschauend nehmen müssen? 
MM: Die Hürde, die eine große Zahl deutscher Mittelständler zu nehmen hat, ist die ehrliche Betrachtung und Analyse der eigenen Situation. Unternehmen müssen jetzt erkennen, wie sinnlos es wäre, weiterhin unprofitablen Umsatz auszubauen und jedes Jahr bzw. jede Saison die Hoffnungen auf die immer wieder gleichen Themen zu setzen – wie das Wetter, die nächste Kollektion, die neue Social Media-Kampagne. Diese und weitere Faktoren werden nachhaltig nicht funktionieren. Es wird auch nicht ausreichen, die drängenden operativen Themenstellungen im Cost-Cutting und der Supply-Chain in den Griff zu bekommen. Jetzt geht es um die Zukunft des Unternehmens und darum, sie zu sichern und das schnell. Es geht also – mehr denn je – um Geschwindigkeit. Oftmals erweist sich das Hinzuziehen externer Berater bei dieser Standortbestimmung als sehr hilfreich.

Wie schätzen Sie die weiteren Entwicklungen ein, Dr. Gerloff?
CG: Wir haben einen nicht kalkulierbaren Markt. Man weiß nicht, wann es wieder richtig losgeht. Vor sechs Wochen bin ich von einer ‘Kauflaune’ ausgegangen – nach dem Motto: 'Wir haben die Krise überstanden’, aber es gibt kein Enddatum der Krise. Stattdessen gibt es immer wieder die Unsicherheit, ob es einen weiteren Shutdown nach der Öffnung der Geschäfte geben wird. Vielleicht wird es eine gewisse Hochphase geben, aber die Menschen werden spüren, dass sie nicht mehr viel Geld für Mode ausgeben werden können. Die Angst, womöglich den Arbeitsplatz zu verlieren, wird auch das Konsumverhalten prägen. Auch darauf müssen sich sowohl Hersteller als auch der Handel einrichten.

Der Blick sollte jetzt fest auf den eigenen Markt und die eigenen Kunden gerichtet sein. Durch Kundenbindung und Kundenaufklärung während der Shutdown-Zeit kann viel gewonnen werden. Es sind schwierige Zeiten. Ich hoffe, dass wir sie alle sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich gut überstehen werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

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