Die Corona-Krise verändert unser gesamtes bisheriges Wirtschaftsleben. Jeden Tag steht ein neuer bekannter Name in der Presse, der Insolvenz angemeldet hat. Parallel müssen sich viele gesunde Unternehmen aufgrund der Krise extrem hoch verschulden, um überhaupt zu überleben.
Wird es auch internationale Konzerninsolvenzen großer börsennotierter Unternehmen geben? Wird die eigentliche Insolvenzwelle erst nachgelagert erwartet – bis in die Jahre 2021/22 hinein? Und nutzen aktuell nicht auch einige Firmen die Situation für längst überfällige Restrukturierungsmaßnahmen aus?
Wir haben dazu Dr. Tjark Thies, Fachanwalt für Insolvenzrecht bei Reimer Rechtsanwälte, interviewt. Wie schätzt er die aktuelle Situation und ihre Auswirkungen ein?
Dr. Thies, Sie blicken als Fachanwalt für Insolvenzrecht auf 19 Jahre Berufspraxis als Insolvenzverwalter zurück. Was hat sich durch die aktuelle Situation an Ihrer Tätigkeit verändert?
Sie ist viel intensiver geworden. Ich weiß nicht, wie es Ihnen persönlich ergangen ist, aber viele befanden sich am Anfang der Corona-Krise in einem Schwebezustand. Man wusste nicht, was da wirklich passiert, wie sich die Welt, das Gesundheitssystem oder auch das eigene Büro organisieren wird. Auch die Geschäftsführung und die Vorstände konnten nicht einschätzen, wie schnell diese ganze Ära wieder endet.
Dann hörte man von den diversen gesetzlichen Maßnahmen, von einer vermeintlichen Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Das führte unter insolvenzrechtlichen Gesichtspunkten in vielen Fällen zu einer Art Lethargie. Hier in Norddeutschland kam es, trotz der Krise, zu deutlich weniger Insolvenzanträgen als im vergleichbaren Zeitraum der Vorjahre. Nur Betriebe, die schon zuvor schwach da standen, stellten Anträge. Im Gegenzug hat sich aber eine Masse an Beratungsaufträgen ergeben, in denen wir prüfen, ob eine Insolvenz – vor allem in Form der Eigenverwaltung oder im Schutzschirmverfahren – gerade in der jetzigen Zeit für das Unternehmen und deren Gesellschafter nicht sinnvoll ist.
Viele gesunde Unternehmen müssen sich jetzt aufgrund der Krise extrem hoch verschulden, um überhaupt zu überleben. Wird die eigentliche Insolvenzwelle und der Auftragsboom dann nicht auch erst nachgelagert erwartet – etwa in sechs bis 12 Monaten, bis in die Jahre 2021/22 hinein?
Wir erwarten eine zweite – die eigentlich größere – Welle durch genau diese Betriebe, die fehlende Einnahmen beklagen, aber aktuell zur Überbrückung Darlehen durch die Hausbank oder KfW erhalten.
Viele dieser Betriebe werden letztlich feststellen müssen, dass die sich daraus ergebende Überschuldung dazu führt, dass sie jahrelang gegen diese Altlasten ankämpfen müssen – ohne langfristig eine Ausschüttung an die Gesellschafter vornehmen zu können. Daraus ergibt sich auch schon jetzt die Vielzahl an Beratungsgesprächen aufgrund möglicher Eigenverwaltung – also der Sanierung des Schuldners in Eigenregie. Wir gehen davon aus, dass das nicht nur Beratungsgespräche sein werden, sondern sich daraus auch viele Eigenverwaltungsverfahren ergeben und das kurz-, mittel- und langfristig. Diese werden auch nötig sein: Für viele Betriebe wird es nicht machbar sein, gegen diesen Schuldenberg oder, wie einige schon befürchten, gegen einen Debt-Equity-Swap anzukämpfen.
Wie können Unternehmen im Lockdown – mit laufenden Kosten und ohne Umsätze – überhaupt saniert werden?
Dabei müssen wir unterscheiden. Wir haben zum einen die Situation in den Betrieben, die wir im Insolvenzverfahren als Insolvenzverwalter oder Eigenverwalter zusammen mit der bisherigen Geschäftsführung betreuen: Dort sind wir primär als Unternehmer tätig und führen den Geschäftsbetrieb fort. Auch für uns wird es dabei aufgrund des Wegfalls oder der Reduzierung der Einnahmen überaus eng. Denn nach der Insolvenzeröffnung müssen auch wir mit Ausnahme der Verbindlichkeiten aus dem Zeitraum vor der Insolvenzeröffnung alle Kosten tragen. Selbst, wenn dort Sanierungsaussichten bestehen, erhalten diese Unternehmen aktuell jedoch keinen KfW-Kredit. Der wird nur Betrieben gewährt, die vor dem 31.12.2019 – vereinfacht gesagt – positive Ergebnisse hatten. Gibt es diese nicht, erhalten diese Betriebe keine KfW-Darlehen – mit der weiteren Folge, dass sie sich aktuell nur via Kurzarbeitergeld am Laufen halten. Aber auch das wird zunehmend schwerer. Wenn diese Maßnahme über den 1. Juni 2020 hinaus nicht länger umsetzbar ist, dann werden auch einige größere Betriebe, die wir aktuell in der Verwaltung unterstützen, ihre Pforten langfristig schließen müssen. Das ist der eine Part.
Und der andere Part?
Der betrifft die neuen Anträge, die jetzt reinkommen: Es gibt aktuell schon die ersten Verfahren mit der Begründung, man habe wegen Corona den Antrag stellen müssen. Das dürfte aber nur die halbe Wahrheit sein: Diese Betriebe sind schon zuvor in Schieflage geraten. Hier gibt es aber den erheblichen Vorteil, dass diese Betriebe im Zeitraum zwischen dem Antrag und der Insolvenzeröffnung das Insolvenzgeld für bis zu drei Monate erhalten, keine Steuern zahlen und unter Umständen – dank des neuen Gesetzes – auch für drei Monate keine Miete zahlen müssen, ohne dass der Vermieter eine Kündigungsmöglichkeit hat. Diese Betriebe haben folglich enorm wenig Ausgaben, können meist problemlos – selbst bei geringen Einnahmen – am Leben erhalten werden und können zurzeit sogar viel leichter saniert werden als zuvor: Schließlich können sie sich von der ersten Sekunde an primär auf die langfristige Sanierung konzentrieren – ohne die ansonsten zeitfressenden Probleme eines laufenden Geschäftsbetriebes.
Sie sprachen bereits die Situation von größeren Betriebe an: Erwarten Sie auch internationale Konzerninsolvenzen von richtig großen börsennotierten Unternehmen?
Auch bei großen Betrieben befürchte ich einige Verfahren. Karstadt hat bereits den Anfang gemacht. Bei börsennotierten Unternehmen gehe ich hingegen eher davon aus, dass es erhebliche staatliche Hilfestellung, mittelbar bis hin zu unmittelbaren Beteiligungen, geben wird wie beispielsweise 2012 die Beteiligung der Stadt Hamburg an Hapag Lloyd.
Liegt das Schicksal Deutschlands nun in den Händen weniger Spezialisten?
Bei den großen Insolvenzverfahren gibt es tatsächlich wenige Verwalterbüros und Beratungsgesellschaften, die über diese enorme Manpower verfügen, um solche Fälle guten Gewissens abzuwickeln.
Nun wird die Insolvenzantragspflicht kurzzeitig und unter bestimmten Bedingungen ausgesetzt. Was denken Sie: Birgt das auch Gefahren? Jörn Weitzmann, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft “Insolvenzrecht und Sanierung” (DAV) warnte kürzlich im Gespräch mit dem Handelsblatt vor einer “zu langen Aussetzung”. Als Gründe gab er an, es könne zum "Vertrauensverlust in der Wirtschaft" führen. Parallel würden ””Super-Zombies” herangezüchtet”.
Es gab gleich zu Beginn eine in die Irre führende Pressemitteilung hierzu: Da hieß es ausschließlich, “die Insolvenzantragspflicht sei ausgesetzt”. Wir hatten entsprechend viele Beratungsmandate, bei denen die Mandanten anfänglich meinten, der Antrag müsse bedingungslos nun nicht mehr gestellt werden. Das ist Humbug. Der Antrag muss immer noch gestellt werden. Nur wenn der Insolvenzgrund Corona-bedingt eingetreten ist und Aussichten darauf bestehen, die bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen, wird die Antragspflicht, vorerst bis zum 30. September 2020, ausgesetzt. Dabei hat der Gesetzgeber aus den Aufbauhilfegesetzen in mehrfacher Hinsicht gelernt. Unter anderem hat er für die Frage, ob der Insolvenzgrund Corona-bedingt eingetreten ist, eine Vermutung im Gesetz verankert. Wer danach am 31. Dezember 2019 nicht zahlungsunfähig war, bei dem wird vermutet, dass der Insolvenzgrund auf der Corona-Krise beruht.
Zu den "Super-Zombies": Ich glaube nicht, dass welche herangezüchtet werden. Diese Unternehmen sind bereits vor der Krise pleite gewesen. Sie werden aber zum Großteil nicht am Markt bestehen, weil sie keine KfW-Kredite bekommen werden. Hier hilft es nichts, wenn man den Antrag gesetzlich nicht stellen muss: Allein aus Liquiditätsgründen muss man ihn dann doch im weiteren Verlauf stellen. Die Gehälter – sei es auch die durch Kurzarbeit reduzierten Gehälter – die aufgelaufenen Altverbindlichkeiten oder die allgemeinen Kosten können irgendwann nicht mehr gezahlt werden. Es gibt sicherlich einige bereits schon vor der Pandemie in der Krise befindlichen Unternehmen, die sich aktuell auf die Hilfe der Banken stützen und die Chance zum kurzfristigen Überleben nutzen. Aber aufgrund der noch restriktiven Darlehensvergabe der Banken meine und hoffe ich nicht, dass die Anzahl groß ist.
Sehen Sie die Gefahr, dass einige Firmen die aktuelle Situation auch durchaus für längst überfällige Restrukturierungen ausnutzen könnten?
Es wird auf jeden Fall Unternehmer geben, die die Corona-Pandemie ausnutzen, um nicht nur schnell Kredite zu ziehen – vielleicht auch nur, um faktisch Umschuldungen vorzunehmen – sondern auch die Corona-Diskussionen nutzen, um überfällige Restrukturierungen vorzunehmen.
Nehmen wir konkret den Fall Lufthansa-Germanwings. Der Vorstand der Lufthansa verkündete kürzlich harte, sicherlich auch notwendige Sanierungsmaßnahmen, statt weiterhin mit diversen Arbeitnehmervertretern zu verhandeln. Die Germanwings sollte endgültig geschlossen und abgewickelt werden. Meinen Sie, dass die durch Corona verursachte drohende Insolvenz nicht auch als Damoklesschwert gegen die Gewerkschaften eingesetzt wird?
Ja, wir beobachten auch diesen Fall: Unternehmen, die die Krise schlichtweg und auch sinnvoll ausnutzen, um härtere arbeitsrechtliche und strukturelle Maßnahmen durchzuführen. Maßnahmen, die man vielleicht vorher, bei florierender Wirtschaft und guten Zahlen, schlecht hätte durchführen können. Das sind Maßnahmen, die über die Kurzarbeit hinaus aus Kündigungen und Tarifverhandlungen bestehen. Sicherlich kann man solche Maßnahmen zurzeit auch ein wenig intensiver betreiben, als es eigentlich notwendig wäre. Das Ziel, den Betrieb langfristig zu erhalten, ist jedoch erstrebenswert.
Wir bemerken das auch selbst. In den laufenden Betrieben, die wir verwalten, können wir zurzeit überaus einvernehmlich mit den Gewerkschaften verhandeln. Sie erkennen selbst, welches Chaos herrschen könnte, würden keine derartigen Maßnahmen ergriffen werden und können ihre Beteiligung an sanierenden Maßnahmen ihren Mitgliedern weitaus besser vermitteln.
Verändert sich aus Ihrer Sicht jetzt auch die Zusammenarbeit zwischen Insolvenzverwaltern und Beratern? Denn der übliche Verlauf von Restrukturierungen sah den Einsatz von Unternehmensberatern lange vor der Liquiditätskrise vor. Nun scheinen Unternehmen die verschieden Krisenstadien ab der Strategiekrise an zu überspringen und direkt in der Insolvenz zu landen.
Ich meine nicht, dass Unternehmen die einzelnen Krisenstadien überspringen: Es geht einfach nur schneller, weil sie von heute auf morgen keine Einnahmen mehr erzielt haben. Und diese Schnelligkeit der fehlenden Eingänge führt dazu, dass die einzelnen – vorher noch in aller Ruhe vorgenommenen Schritte – nun nicht mehr greifen. Obsolet werden Unternehmensberater deswegen aber nicht: Der erste Schritt führt Unternehmen immer noch zum eigenen Anwalt, zum Steuerberater, zur Hausbank, die dann wiederum an den Unternehmensberater vermitteln. Ich vermute, dass die Arbeitszeit von Unternehmensberatern pro Mandat geringer ausfallen wird. Dafür wird sich der Workload durch sehr viel mehr Mandate steigern und wir Insolvenzverwalter als Auftraggeber werden verstärkt hinzukommen.
Auch wird sich der langfristige Einsatz ändern: Ein Unternehmen wird zurzeit von einem Berater nicht mehr die nächsten sechs bis acht Monate begleitet, um gemeinsam festzustellen, wie es sich entwickelt und welche personellen oder strukturellen Änderungen durchzuführen sind. Die Krise ist ja schon direkt vorhanden. Und letztlich wird sich kurzfristig und für kurze Zeit der Arbeitsbereich ein wenig ändern. Eine Unternehmensberaterin oder ein Unternehmensberater wird zurzeit primär interessieren, wie die Liquiditätskrise aufgefangen werden kann. Wie beispielsweise einzelne Produktionsbereiche verändert werden können – das wird in den Hintergrund treten. Aktuell gilt: Wie schnell kann der Betrieb wieder Einnahmen generieren, respektive: Wie kommt er an Kredite?
“Zwischen dem Wunsch, Pleiten abzuwenden und der Vorsicht, keinesfalls Kredite zu vergeben, deren Rückzahlung in Zweifel gezogen werden müssen” – so beschrieb Uwe Köstens, Managing Partner bei enomyc, die Lage der Banken kürzlich in seinem Kommentar. Was denken Sie darüber?
Die Verantwortung, ob Kredite gewährt werden sollen oder nicht, liegt auch in der jetzigen Phase bei der Bank. Sie ist nur jetzt nicht mehr nur betriebs-, sondern auch volkswirtschaftlich zu sehen. Es ist für die einzelne Bank weiterhin die intensive Pflicht – auch durch das Hinzuziehen externer Berater – zu prüfen, ob sie in ein Unternehmen investiert, das mit der sich daraus ergebenden Bilanz und dem Cash flow auch langfristig am Markt bestehen wird. Und selbst wenn die KfW 100 Prozent des Kreditausfalls übernimmt, hat die Hausbank mit ihren Kenntnissen aus der langfristigen Begleitung des Betriebes die Verpflichtung gegenüber der KfW – und somit gegenüber jedem einzelnen – zu überprüfen, ob man diesen Betrieb langfristig unterstützen kann und soll. Und das gilt unabhängig von der Frage, ob der Betrieb verschuldet in diese Situation geraten ist oder nicht.
Was schätzen Sie abschließend: Wann werden die volkswirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise spürbar?
Der Schaden ist jetzt vorhanden und vergrößert sich täglich. Ich glaube aber, dass mit Ausnahme der leidtragenden Unternehmer und der Mitarbeiter, die durch Kurzarbeit belastet sind, die Mehrheit sie wirklich erst in den nächsten zwei bis fünf Jahren spüren wird. Dann wird das gesamte Horrorszenario durch Steuer- und Abgabenerhöhungen – erneut – klar. Steuerlich wird man nicht so schnell Folge leisten – das wäre kontraproduktiv. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Staat nächstes Jahr schon die Steuern rasant in die Höhe peitschen wird, um die fehlenden Einnahmen – respektive die jetzigen Ausgaben – wieder zu neutralisieren. Ich glaube, man wird die Inflation in Kauf nehmen und die Steuerlast erst später erhöhen. Das Gegenteil wäre konträr zum so dringend erforderlichen Wiederaufleben unserer Wirtschaft.
Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Thies.