Das deutsche Lieferkettengesetz und ein europäisches on top – dessen Abstimmung die FDP in letzter Minute torpedierte. War das nun hilfreich oder nicht?
Dr. Tim Bauer kommt selbst aus einer Unternehmerfamilie. Er findet, dem EU-Parlament fehle der Blick für den Mittelstand: „Es wird zu stark die Perspektive der Konzerne und Großbetriebe eingenommen." Zwar inhaltlich ein wichtiges Thema, sei die Ausweitung der Lieferkettenrichtlinie auf kleine und mittlere Unternehmen – wie es die EU-Vorgaben vorsehen – eine Bürde für den Mittelstand in Deutschland.
Aber nun mal ungeachtet der politischen Disharmonie, ungeachtet der vorhandenen oder fehlenden Mittel und des Faktors Zeit: Welche Entscheidungen zu ihren Lieferketten sollten Unternehmen ab jetzt treffen und warum? Wie könnte ein Quick Check aussehen? Ein Gespräch mit unserem neuen Partner in Stuttgart.
Dr. Bauer, Justizminister Marco Buschmann (FDP) bezeichnete die jetzige Form des EU-Lieferkettengesetzes als „unzumutbar für kleine und mittelständische Unternehmen“. Wie bewerten Sie das?
Ich gebe der Aussage von Herrn Buschmann Recht: Zumindest die kleineren Unternehmen wird das Gesetz überfordern. Grundsätzlich aber ist das Thema Lieferkettengesetz inhaltlich durchaus gerechtfertigt. Die Zunahme der globalen Wirtschaft schafft die Notwendigkeit dafür. Deutschland ist übrigens in der EU einer der Vorreiter. Und auch wenn die jetzige Ausführung noch nicht so scharf ist, wie es die Vorgaben der EU vorsehen: Es ist eine, die zur Auseinandersetzung mit der Materie zwingt.
Man muss dazu sagen: Das deutsche Lieferkettengesetz gilt seit Januar 2023 und betrifft größere mittelständische Unternehmen ab 3.000 Mitarbeiter:innen. Und nun, seit Anfang des Jahres, gilt es auch für Unternehmen ab 1.000 Mitarbeiter:innen.
Genau. Das letztgenannte befindet sich aktuell im Roll-out. Darüber wird bereits seit Jahren diskutiert. Es wurde lange erarbeitet. Auch letztes Jahr wurde sich intensiv damit beschäftigt. Nachdem nun das deutsche Lieferkettengesetz gerade erst bei den Unternehmen „angekommen” ist, folgt nun direkt das europäische Lieferkettengesetz, die Corporate Sustainability Due Dilligence Directive – kurz CSDDD. Hier wissen die meisten Unternehmen noch gar nicht, was auf sie zukommt.
Böse Zungen könnten behaupten, Politik und Wirtschaft hätten genügend Zeit gehabt, sich mit ESG-Maßnahmen – darunter fällt das Lieferkettengesetz – auseinanderzusetzen. Zuletzt geht es ja um den Schutz von Menschenrechten und Umwelt: Wen jetzt noch empfindliche Strafen treffen, ist selbst schuld. Gehen Sie da mit?
Bedingt. Es kommt darauf an, auf welche Unternehmen man es anwendet. Ich halte nicht dagegen, wenn es größere Mittelständler betrifft, die international agieren und sich – trotz genügend Zeit und Ressourcen – nicht mit den ESG-Maßnahmen auseinandergesetzt haben. Geht es aber um kleine und mittlere Unternehmen, die krisengebeutelt sind und ihren Fokus aus diesem Grund auf andere Bereiche richten: Da finde ich es zu hart, ihnen das komplette regulatorische Korsett anzulegen. Die geplante EU-Direktive erweitert den Anwendungskreis von Unternehmen ab 1.000 Mitarbeitern auf Unternehmen ab 250 Mitarbeitern. Das führt zu einer mittlerweile zunehmenden Problematik zwischen dem deutschen Mittelstand und der EU.
Genauer?
Die EU-Kommission blickt hier aus der Perspektive der Großkonzerne und Großbetriebe auf die Umsetzbarkeit des Gesetzes. Es fehlt an Pragmatismus. Und genau der ist ja die Stärke des Mittelstandes: Er ist erfolgreich, weil er flexibel agieren kann. Das ist seine Struktur. Und während nun das EU-Lieferkettengesetz für die großen Unternehmen gestrickt ist, ist es eine weitere Bürde, die der Mittelstand in herausfordernden Zeiten tragen muss. Das halte ich für gefährlich.
Worin besteht die Gefahr?
In erster Linie darin, als dass mittelständische Unternehmen in der Regel nicht über die organisatorischen Ressourcen verfügen, die die vollumfängliche Auseinandersetzung mit dem Lieferkettengesetz gewährleisten können – und sie sie letztendlich auch nicht finanzieren können. Dagegen verfügen aber große Unternehmen sowohl über Ressourcen als auch über die finanziellen Mittel. Das führt, was die Auseinandersetzung und Umsetzung des EU-Lieferkettengesetzes betrifft, zum Wettbewerbsvorteil der Großen und zu einem gefährlichen Ungleichgewicht. Das ist schon eine ernstzunehmende Problematik, weswegen ich auch die Aussage von Herrn Buschmann teile.
Die FDP hat ja nun in letzter Minute die geplante Abstimmung fürs EU-Lieferkettengesetz blockiert. War das hilfreich? Wie stehen Sie zur Debatte?
Die FDP hat einen Rückzieher gemacht, den ich so kurz vor knapp für schwierig halte. Warum? Weil es zu einer absoluten Verunsicherung und total schlechter Planbarkeit führt. Kein Unternehmen weiß aktuell, was am Ende kommt und was es tun sollte. Die FDP nutzt hier ein Vehikel zu einem extrem unglücklichen Zeitpunkt. Man hätte sich dazu deutlich früher und auch intensiver auseinandersetzen können.
Sie kommen selbst aus einer Unternehmerfamilie, haben das mittelständische Unternehmen in dritter Generation geführt. Wie erleben Sie die Regulatorien – damals und heute?
Ich erlebe sie oft als praxisfremd. Rückblickend stelle ich auch fest, dass die Regulatorien in den letzten Jahren zum einen deutlich zugenommen haben, zum anderen auch sehr viel umfangreicher sind. Nun ist es zwar oft so, dass man als mittelständisches Unternehmen eine höhere Zahl an Mitarbeitern hat, aber der Großteil arbeitet produktiv. Dagegen ist die Verwaltungsorganisation schlank. Alle sind mit dem operativen Geschäft ausgelastet. Schließlich muss das Unternehmen kosteneffizient am Markt bestehen können. Und da sind Regulatorien oft belastend und herausfordernd – vor allem, wenn Unternehmen in einer fordernden Branche unterwegs sind, wo hoher Druck herrscht und sie im verschärften Wettbewerb stehen.
Sind die ESG-Auflagen und das Lieferkettengesetz eigentlich brennende Themen bei den Unternehmer:innen in Ihrer Region?
Tatsächlich sind die Themen aktuell weniger präsent. Die Durchsetzung der Gesetze werden von vielen in weiterer Ferne vermutet und wabern eher im Hintergrund. Das ist ein Problem, was in Zukunft zu ernsthaften Schwierigkeiten führen kann. Deswegen empfehle ich Unternehmen auch, sich jetzt, proaktiv und mit gesundem Menschenverstand damit auseinanderzusetzen, wie sie sich sauber und nachhaltig aufstellen können.
Was wären denn schätzungsweise Konsequenzen, wenn Deutschland dauerhaft eine „Verweigerungshaltung” – so nannte es DER SPIEGEL kürzlich – einnehmen sollte? Glauben Sie, es hätte wirtschaftliche Vor- oder eher Nachteile für seine Wirtschaft?
Ich denke, die Einhaltung des Lieferkettengesetzes wird Unternehmen im globalen Wettbewerb Vorteile bringen. Man muss auch ganz klar sagen: Ist die Auseinandersetzung mit Regulatorien händelbar und können mittelständische Unternehmen sie sauber in klare Prozesse fassen, dann können sie durchaus einen Wettbewerbsvorteil für sich gewinnen. Aber: Es wird eine Diskrepanz geben zwischen dem erklärten Aufwand und den Möglichkeiten, die die Unternehmen haben.
Bleiben wir kurz beim Wettbewerbsvorteil, den die Einhaltung des Lieferkettengesetzes bringen kann.
Sieht man sich die gesamte ESG-Thematik an, dann gibt es vorrangig zwei Säulen: die Offenlegungspflichten – auch CSRD-Reports genannt – und die Handlungspflichten, zu denen auch das Lieferkettengesetz zählt. Über die erste Säule zeigen sich Unternehmen transparent am Markt – ob sie nachhaltig agieren oder nicht. So wird unter anderem Green Washing entgegengewirkt, was gut und richtig ist. Was hier auch elementar wichtig ist: Unternehmen werden darüber bewertet und dann über eine Zusammenarbeit entschieden. Das macht den Wettbewerbsvorteil zu sehr großen Teilen aus.
Wen interessiert ein ESG-konformes Handeln wirtschaftlich genau – außer vielleicht mögliche Geschäftspartner?
Die Finanzwirtschaft beispielsweise. Es gibt Auflagen darüber, in welches unternehmerische Handeln investiert werden darf und in welches nicht. Auch bei Fördermitteln spielt Nachhaltigkeit im Rahmen der EU-Taxonomie eine tragende Rolle. Und nicht nur da. Thema Fach- und Arbeitskräftemangel: Unternehmen, die sich an die ESG-Richtlinien halten, sind insgesamt attraktiver und sichern ihren Erfolg langfristig über ihre Ressourcen.
Ungeachtet der politischen Disharmonie, ungeachtet der vorhandenen oder fehlenden Mittel und des Faktors Zeit: Zu welchen Schritten raten Sie Unternehmen in der aktuellen Situation?
Lethargie ist immer schwierig, ebenso blinder Aktionismus. Deswegen rate ich zu ersten kleinen, aber strukturierten Schritten. Unternehmen müssen ein Bewusstsein über die Risiken schaffen, die auf sie zukommen – einerseits auf Ebene der Regulatorik, denn da können Unternehmen unter anderem Bußgelder, Probleme bei der Testierung und Finanzierung drohen – und andererseits bezüglich ihrer Wettbewerbsposition.
Wie könnten einige Leitfragen für einen Quick-Check lauten?
Was ist tatsächlich relevant für mich? Wo liegen für mein Unternehmen die Risiken rund um die Thematik Nachhaltigkeit? Welche sollte ich eingehender betrachten und bewerten? Hierzu bietet die doppelte Wesentlichkeitsanalyse einen guten Ansatz, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen – aus Outside-In- und Inside-Out-Perspektive: Wie wird das Unternehmen durch Nachhaltigkeitsthemen beeinflusst? Und welche Auswirkungen hat das Geschäftsmodell auf die Umwelt?
Können Sie ein Beispiel aus ökonomischer Sicht nennen?
Ja, was bedeutet beispielsweise die steigende CO2-Besteuerung für mein Unternehmen? Mit welchen Auflagen und welchen Kosten muss ich rechnen? Aber auch mit welchen Förderungen? Unternehmen müssen, sofern sie einen negativen Impact auf die Umwelt haben, die Risiken bewerten und unweigerlich Maßnahmen ableiten. Eigentlich gehört das Thema zur grundlegenden Unternehmensführung dazu. Nach einer richtigen Einschätzung folgt die Definition der Ziele und – nicht zu vergessen – sich und die Ziele transparent zu machen. Das ist ein wichtiges Signal nach außen. Unternehmen, die sich an eine nachhaltige Position kämpfen, werden sich langfristig einen Wettbewerbsvorteil sichern können.
Sie beraten vorrangig im Raum Baden-Württemberg. Was beeindruckt Sie an Ihren Klienten?
Ich denke, das viel strapazierte Wort "Unternehmertum" trifft es ganz gut: Ich erlebe viel Pragmatismus in den mittelständischen Unternehmen. Dass gehandelt wird. Dass man Lösungen findet. Offen für Neues ist, für Veränderungen, und sie auch im Unternehmen vorantreibt.
Sind Sie schon Unternehmen begegnet, die die ESG-Richtlinien zu Ihrem Wettbewerbsvorteil genutzt haben?
Ja, ich habe unter anderem einen Unternehmer kennengelernt, dessen Maxime war, dem Wettbewerb immer zwei Schritte voraus zu sein. Das war sein Erfolgsrezept. Er hat es gegen alle Widerstände durchgesetzt – teilweise sogar gegen finanzierende Partner. Beispielsweise hat er, schon bevor der Handlungsdruck zu ESG-Maßnahmen zunahm, in alternative Energien investiert. Er ist das Risiko eingegangen und hat dafür viel Geld in die Hand genommen. Heute prosperiert das Unternehmen, das übrigens in einer sehr energieintensiven Branche zu Hause ist. Diese Umsetzungsstärke finde ich beeindruckend. Sie in die Organisation hineinzutragen, macht Unternehmen zuletzt erfolgreich.
Worauf schauen Sie heute zuerst, wenn Sie ein Unternehmen kennenlernen?
Natürlich auch auf sein Geschäftsmodell, insbesondere aber auf seine Strukturen und Kultur.
Warum?
Wenn man eine Maßnahme erfolgreich im Unternehmen umsetzen will, dann muss sie zur DNA passen. Mich interessieren die Erfolgsfaktoren des Unternehmens ebenso wie die Gründe, warum sich ein Unternehmen in einer bestimmten Situation befindet. Ich brauche ein grundlegendes Verständnis für seine Strukturen. Dazu gehe ich mit allen zentralen Funktionen und Parteien umfangreich und vertrauensvoll ins Gespräch.
Sie sind seit 2020 von Unternehmer- auf Beraterseite gewechselt. Heute sind Sie Partner bei enomyc und leiten das Stuttgarter Office. Wie hat Ihre eigene Geschichte Ihren Beratungsansatz geprägt?
Insofern, als dass ich immer Respekt vor der Vergangenheit habe. Ich begegne häufig Unternehmerpersönlichkeiten, die etwas Hervorragendes geschaffen haben, deren Unternehmen nie Krise kannten. Hier stelle ich mir die Frage: Mit welchem Lösungsansatz kann ich die Erfolgsfaktoren der Vergangenheit in die Zukunft übertragen? Was sind die Ansatzpunkte dafür, die in der DNA des Unternehmens verankert sind? Auf die konzentriere ich mich.
Danke für das Gespräch, Dr. Bauer.
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