In den vergangenen Wochen hat sich sogar die Boulevard-Presse über unsere Lieferketten Sorgen gemacht: Im Zuge des Coronavirus könnten Ladenregale leer bleiben, Autofabriken stillstehen, die gesamte Wirtschaft in Richtung Ruin getrieben werden. Wenn ein Thema den Sprung aus Berater-Präsentationen in die Bild Zeitung schafft, ist die Lage in der Tat dramatisch. Aber wir dürfen mit Blick auf die Zeit nach der Pandemie nicht in Lieferketten-Aktionismus verfallen. Die Krise hat unterschiedlichen Branchen unterschiedliche Probleme bereitet, weshalb wir nun verschiedene, segmentspezifische Lösungen brauchen.
One size fits all wird es bei den Lehren aus der Krise im Bereich Supply Chain nicht geben können, auch wenn sich die Trends der vergangenen Jahrzehnte wie folgt zusammenfassen lassen: In vielen Industrien wurden Supply Chain-Konzepte immer weiter optimiert und vor allem auf Effizienz und möglichst kurze Zyklen getrimmt. Unternehmen konnten in allen Stufen ihrer Lieferketten Kosten senken, nahmen aber im Gegenzug auch Risiken in Kauf. Single Sourcing-Konzepte, Just in Time- und Just in Sequence-Konzepte, durchgängige Verkettung von Produktionssystemen, größtmögliche Bestandsreduktion, Gleichteile-Verwendung – die vielen Ansätze waren effizienter, aber eben auch anfälliger.
Die Möglichkeiten und die Zwänge der Globalisierung führten zu einer weltumspannenden Arbeitsteilung, zu global aufgebauten, verketteten Wertschöpfungsstrukturen, die neben den Vorteilen gleichzeitig ein Klumpenrisiko mit sich brachten. Spätestens als der Güter- und Warenverkehr fast über Nacht zum Erliegen kam, war das Drama perfekt. Verwerfungen hatte es bereits durch den Handelskonflikt zwischen den USA und China gegeben. Supply Chain-Experten hatten auch die sich aufbauenden Risiken gesehen, diese jedoch meist als vorhersehbar und damit auch beherrschbar angesehen. Aber nun stehen sie gerade wegen der Unsicherheit über die Entwicklung der Weltwirtschaft vor ganz neuen Problemen.
Aber eben vor verschiedenen Problemen. Autobauer, zum Beispiel, haben in den letzten 25 Jahren andere Lieferketten aufgebaut als Textilunternehmen, Textilunternehmen andere als Maschinenbauer. Bei der Identifizierung und Analyse von Problemschwerpunkten und der Ableitung von Maßnahmenprogrammen müssen wir diese Unterschiede zwingend beachten.
Im automobilen Sektor trieben die großen Autobauer, die sogenannten Original Equipment Manufacturers, den Aufbau weltweiter Produktions- und Beschaffungsnetzwerke voran. Viele mittlere und größere Zulieferer folgten ihnen und errichteten ebenso in vielen Regionen der Welt Produktionsstandorte. Der Verzicht der OEMs auf Lagerhaltung und Sicherheitsbestände erfordert die räumliche Nähe der wichtigsten Zulieferer. Die enormen Investitionen zahlten sich über entsprechende Auslastung aus. Aber ohne Materialpuffer oder Sicherheitsbestände ist dieses Riesenkonstrukt stets recht empfindlich. Wenn auch nur geringste Teileumfänge fehlen, steht das Band beim OEM fast sofort still.
Die globale Textilindustrie verteilte Produktionsschritte konsequent auf Standorte weltweit, an denen die geringsten Kosten anfallen – und Umwelt- und Sozialstandards zum Teil sträflich vernachlässigt werden können. Diese Entwicklung wurde mit dem Trend zu Fast Fashion noch weiter intensiviert und ermöglicht gleichzeitig auch erst diese Entwicklung, denn Fast Fashion funktioniert nur bei niedrigen Produktionskosten. Während im Autobau die Bauzeit einer Baureihe sich zwischen sechs bis acht Jahren bewegt, sind dies in der Textilindustrie manchmal nur Wochen. Just in Time-Konzepte spielen keine Rolle, die Investitionen in Produktionsanlagen sind deutlich geringer und damit auch Verlagerungen einfacher.
Maschinen- und Anlagenbauer konzentrieren sich – anders als OEMs und Textilhersteller – auf die Einzel- oder Kleinserienfertigung. Ihre Lieferketten sind anders aufgebaut, sind deutlich weniger global und beziehen oft weniger Lieferanten ein als etwa die OEMs. Doch auch die Maschinenbauer haben ihre Lieferketten globalisiert: Wurden anfangs eher B- und C-Umfänge stärker global gesourced, werden mittlerweile auch A-Teile von hoher strategischer Relevanz, wie zum Beispiel Gussteile, auf den Weltmärkten eingekauft. Insgesamt ist die Supply Chain allerdings deutlich weniger anfällig als in den Auto- und Textilbranchen.
Die Beispiele verdeutlichen, dass verschiedene Branchen mit verschiedensten Problemen umgehen müssen. Sind OEMs weiterhin bereit, den Balanceakt zwischen Just in Time-Produktion und Produktionsausfällen fortzusetzen? Können Textilunternehmen weiterhin von einem Zulieferer in einem Niedriglohnland zum nächsten im nächsten Niedriglohnland ständig wechseln? Müssen Maschinenbauer A-, B- oder C-Teile wirklich regional oder global einkaufen? Wäre es nicht besser, manche Teile (wieder) in Eigenregie herzustellen, wenn die Produktionsstruktur dies erlaubt?
Jede Frage erfordert eine andere Antwort. Die Coronavirus-Krise verdeutlicht, dass die Schwachstellen von Lieferketten von vielen Variablen beeinflusst werden: von der Struktur eines Supply Chain-Systems, von der Beschaffenheit einer Branche, von Eigenheiten eines Unternehmens. Zu den Problemen wie Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten, fragile Transportketten, mangelnde Durchgängigkeit in den Prozessen, schlechte Kommunikation und Abstimmung, ungenügende Planungsqualität kommt noch die weitergehende Digitalisierung hinzu – für viele Unternehmen eine Herausforderung schon vor der Krise.
Noch müssen viele Unternehmen im Notfallmodus ihre Lieferketten absichern und die eigene Wertschöpfung aufrechterhalten, sofern die sonstigen Rahmenbedingungen dies zulassen. Nach der Krise müssen sie aber ihre Supply Chain-Konzepte überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Nur die Unternehmen, die einigermaßen unbeschadet durch die Krise kommen und gleich ihre Hausaufgaben zur Optimierung ihres Supply Chain Managements machen, werden die Krise schnell und nachhaltig überwinden. Unser Zehn-Punkt-Plan zeigt, wie Sie sich individuell auf diese Aufgabe vorbereiten können.
Lesen Sie demnächst Christian Zellers Folgebeitrag:
Supply Chain Realignment – eine Handlungsanleitung in zehn Punkten