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Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine: die damit einhergehenden Störungen stellen die deutsche Wirtschaft auf eine harte Probe. Wie entwickeln sich die Rohstoffpreise? Wird die Inflation weiter zunehmen? Verstärkt sich der De-Globalisierungstrend? Welche Geldpolitik verfolgt die EZB jetzt?

Im Gespräch mit Johannes Leßmann betrachten wir die vielfältigen Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Unternehmen jetzt stehen. 

Das erste Thema, das momentan jede:r als direkte Konsequenz aus dem Ukraine-Krieg wahrnimmt, sind die Schwankungen der Rohstoffpreise. Die Spritpreise sind sprunghaft gestiegen. Was sagen Sie dazu, Herr Leßmann?

Bevor ich einsteige, möchte ich das Thema kurz einordnen. Unser Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht in seiner Rede am 27. Februar vor dem Bundestag von einer "Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents" und verbalisiert den Kriegsbeginn am 24. Februar 2022. Aus meiner Perspektive manifestiert sich hier nach zwei Jahren Corona-Pandemie und nun dem Krieg in der Ukraine in Europa ein Wendepunkt. Dieser deutete sich bereits 2017 an, als die Inflationsrate von nahezu null auf knapp 1,5 Prozent anstieg und wird von der Ukrainekrise verstärkt. Bildlich gesprochen sind wir mit knapp 240 km/h über die Autobahn gefahren und wussten, dass wir demnächst abbiegen müssen. Die Corona-Pandemie und nun der Krieg in der Ukraine zwingen zum deutlichen Bremsmanöver. Und genau solche Handlungen sind mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, da diese zu Unfällen und damit eine Wirtschaft in eine Rezession führen können. Die Insolvenz der US-Bank Lehman Brothers ist ein gutes Beispiel dafür.

Gerade die Schwankungen der Rohstoffpreise oder an den Rohstoffmärkten ist nichts Neues. In der Vergangenheit haben wir in der ersten und zweiten Ölkrise ähnliche Ausschläge beobachtet. Beides waren Zeiten, die im Anschluss in eine Rezession mündeten. Heute haben wir an den Rohstoffmärkten viel mit Sicherungsgeschäften zu tun. Das heißt, die Akteure planen einen normalen wirtschaftlichen Verlauf. Kommt es um diesen Wirtschaftsverlauf herum zu Abweichungen, entstehen Schwankungen.

Während der Corona-Pandemie verzeichneten wir deutliche Schwankungen, zum Beispiel mit dem Zusammenbruch des Ölpreises. Mit dem Lockdown in der Luftfahrtindustrie, jetzt mit dem Ausbruch des Krieges, passiert genau das Gegenteil: Wir haben an den Rohstoffmärkten Kriegspreise und ich gehe davon aus, dass sich diese mit dem Ende des Krieges normalisieren, wir also einen Rückgang der Preise in dem Markt sehen werden. Allerdings, verglichen zu der Vor-Corona-Phase werden wir hier deutlich höhere Preise verzeichnen und damit münden wir in das Thema Inflation als nachhaltige Entwicklung.

Das wäre das nächste Stichwort gewesen. Die Frage ist: Hohe Preise könnten auf den Ukraine-Krieg zurückzuführen sein. Es kann auch einen Zusammenhang mit der Inflation geben. Die ersten Meldungen, dass die Inflation nun steigt, sind verbreitet worden. Was ist Ihr Ansatz zum Thema Inflation?

Wie eingangs gesagt, kommt die Inflation aus meiner Sicht mit Ansage und sie wird für einen längeren Zeitraum für uns von Bedeutung sein. Länger heißt für mich, die nächsten fünf bis zehn Jahre. Wenn ich in den historischen Kontext schaue, haben wir Durchschnittswerte von rund 2,5 Prozent pro Jahr gehabt. Betrachte ich die Zeitreihe von 1950 bis heute – mit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009/2010 hatten wir dort ein deutliches Umschwenken. Das heißt, wir haben diesen eigentlichen Mittelwert von 2,5 Prozent nachhaltig verlassen, sind auf nahezu null im Jahre 2016 gerutscht und haben dann eine Zeitenwende aus Sicht der Inflation 2017 vorgenommen. Diese wurde durch die Corona-Pandemie unterbrochen, was eine künstliche, temporäre Rezession war und jetzt durch die Ukrainekrise verstärkt wird.

Das heißt, die Inflation wird jetzt in mehreren Stufen für uns präsent. Was wir als erstes sehen, ist die Verteuerung der Rohstoffe. Das ist der klassische erste Rundeneffekt. Dieser wird sich auf einem hohen Niveau einpendeln. Der Zweitrundeneffekt kommt aus Sicht der Löhne. Wir können also davon ausgehen, dass mit dem Anziehen der Rohstoffpreise auch die Lohnforderungen steigen werden. Der dritte Punkt, der von Bedeutung sein wird, aber bisher eine untergeordnete Rolle in der Diskussion einnimmt, ist die De-Globalisierung. Die wird einen Drittrundeneffekt mit sich bringen, indem die sogenannten Skaleneffekte dieses globalen Wirtschaftens durchbrochen werden.

Was ist der Effekt dieses De-Globalisierungstrends bzw. was passiert durch die Störungen in den Lieferketten?

Während der Corona-Krise wurde uns bewusst, was die Globalisierung unter der Überschrift "Optimierung in der gesamten Supply Chain" in einer deutlichen Abweichung von "normal" bedeutet. Das erste Mal seit sehr, sehr langer Zeit hatten wir die Situation, dass bestimmte Produkte bzw. Produktgruppen nicht mehr bzw. nicht jederzeit verfügbar sind. Die Ukrainekrise verstärkt diesen Effekt. Heute diskutieren wir das Thema zum Beispiel über Kabelbäume. Vor einem halben bis dreiviertel Jahr war das mit der Krise überall präsent. Im Kern sind dies aber keine Probleme, die aus Sicht der Corona-Pandemie bzw. des Krieges in der Ukraine heraus entstanden sind. Wir müssen wesentlich weiter vorne ansetzen: Mit der Wahl des ehemaligen US-amerikanischem Präsidenten Donald Trump, der das Thema „America First“ formuliert hat, trat eine grundsätzliche politische Neuordnung auch nach außen. „America First“ kam aus der Diskussion der Handelsdefizite, welche zum Beispiel zwischen Amerika und China sehr stark vorherrschten, einen starken politischen Charakter haben und damit ist auch eine Diskussion in Richtung Europa verbunden. Der Grundstein war gelegt.

Die in sich optimierten Supply Chains verzeichnen jetzt eine Rückwärtsbewegung. Das Optimum, welches wir aus den Skaleneffekte in der globalen Produktion haben, durchbrechen wir gerade, da wir mehr in Richtung der Produktion vor Ort denken müssen. Das brachte im Übrigen auch die Bekleidungsindustrie in die Diskussion. Aus meiner Perspektive war sie einer der größten Globalisierungsbefürworter. Mit Blick auf „Fast Fashion“ findet auch hier ein Umdenken, schrittweise in Richtung Circular Economy statt. Das wird sich auch in Zukunft verstärken. Damit verbunden ist die Frage, wie sich das im Bereich der Inflation verhält. Diese Inflation ist dann auch ein Riesenthema der Zentralbankpolitik; sei es in Europa, Amerika oder weltweit.

Können Sie erklären, wie der Zusammenhang zwischen Außenhandelsdefizit und „America First“ ist? Wie passt das Außenhandelsdefizit mit der Nationalisierung der Politik zusammen?

Das Handelsbilanzdefizit, welches bspw. zwischen den USA und China besteht, ist ein mehrgleisiges. Durch die große Supply Chain kam es zu einer Produktionsverlagerung in Richtung China, was mit Preisreduktionen hin zum Endkunden verbunden ist. In Richtung Amerika hat das eine sehr starke Bedeutung bekommen, da dort eine gewisse De-Industrialisierung in den klassischen Industrien stattfand. Stichwort Autoindustrie. In Richtung Detroit usw. hat dieses Thema auch etwas mit Arbeitsmarktpolitik zu tun. Amerika hat einen klaren Willen, in dem Zusammenhang Arbeit mehr vor Ort zu haben, um diese Handelsbilanzdefizite, das heißt durch den Einkauf von Waren aus Asien heraus, diese Gelder und diese Gewinne, die dorthin verlagert werden, wieder zurück nach Amerika zu holen. Diese Diskussion gilt jetzt nicht nur in Richtung Asien, wo sich zwei Weltmächte entsprechend treffen, es hat auch etwas mit Europa und im Speziellen mit Deutschland zu tun. Deutschland, ein Land, das aus Sicht des Exportes Weltmeister ist. Das Thema De-Globalisierung ist ein ganz empfindliches für uns in Deutschland, da wir wahrscheinlich einer der großen Leidtragenden der De-Globalisierungspolitik sein werden.

Kommen wir zur Geldpolitik der EZB und den Risiken, die sich daraus ergeben. Die EZB ist eine der möglichen Stellschrauben für Außenhandelsüberschüsse oder -defizite. Sie sagen, es gibt Risiken aus der EZB Politik. Warum?

Ich würde diese Risiken gerne als Unsicherheiten bezeichnen. Je nachdem wie die EZB-Politik der Zukunft aussieht, wird diese sowohl Chancen als auch Risiken beherbergen, was uns zur Frage führt: Sind wir in einer Stagnation oder münden wir in eine Rezession? Bezogen auf Europa haben wir mit der EZB-Politik eine doch recht starke Politik, die hier die einzelnen Nationalstaaten in Europa refinanziert. Durch die deutliche Reduktion von Kapitalmarktzinsen beobachten wir gleichzeitig das kontinuierliche Ausbauen der entsprechenden Geldmenge. Und im Zusammenhang mit der Inflation stellt sich mir die Frage, wie sich die Politik der Zukunft in diese Richtung gestalten wird.

Seit 2016/2017 haben wir erstmalig, und zwar aus der Zeitreihe seit zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren, negative Realzinsen. Diese negativen Realzinsen sind wie eine Art „Damoklesschwert“. Um es einfach auszudrücken: Denjenigen, die Geld haben, wird es genommen. Bei denjenigen mit Schulden wird das entsprechend ausgeglichen. Das hat auch eine entsprechende Auswirkung für Unternehmen, aus Sicht von Verschuldung, Struktur, Verschuldungsgrad. Solange die EZB in dieser negativen Realzinspolitik verbleibt, ist aus meiner Perspektive heraus doch eine gewisse Stabilisierung gegeben. Im Umkehrschluss bedeutet das für Unternehmen: in dem Moment, wo ich eine positive, reale Verzinsung in meinem gesamten Geschäftsmodell habe, bezogen auf das Thema Inflation, verdiene und gewinne ich. Die Unternehmen, die diese Realverzinsung auf ihr Geschäftsmodell nicht positiv gestalten, werden in der Zukunft verlieren.

Können Sie das konkretisieren?

Wir haben den Umstand, dass wir über zwanzig, dreißig Jahre hinweg strukturell Schulden aufgebaut haben. Strukturverschuldung, wir haben es diskutiert, sowohl was Privatpersonen, was aber vermehrt auch in Unternehmen oder in den Staaten einhergeht. Diese hohe Verschuldung wird sich auch im Zusammenhang einer Inflation auswirken. Wenn die Zinsen steigen, steigt auch der entsprechende Gesamtaufwand, was das Thema Zinszahlungen bzw. Kapitaldienst anbelangt.

Aus Sicht eines Schuldners ist es gut, wenn ein negativer Realzins vorliegt, da das zu einer Geldentwertung führt und diese, bezogen auf Schulden, eine Schuldenentwertung mit sich bringt. In genau diesem Wechselspiel befinden sich auch Unternehmen: auf der einen Seite Investitionen zu tätigen, die dann einen vernünftigen Mehrwert bringen. Auf der anderen Seite ist es ein Balanceakt aus der Thematik der finanziellen Stabilität bzw. Risikoaversion oder Risikoabbau eines Geschäftsmodells, um auch eine vernünftige Balance in der Cash Position zu bekommen.

Große Analysetrends, die global und weit weg erscheinen, haben also auch handfeste Auswirkungen auf Unternehmen in Europa und in Deutschland?

Auf jeden Fall. Ich bin gespannt, wie wir das aus Sicht des Managements in der Zukunft sehen werden. Mit diesem Wendepunkt, den wir jetzt haben – Stichwort "anhaltende Inflation" – werden wir das Thema mit der Verfügbarkeit von Waren für einen längeren Zeitraum sehr stark in den Vordergrund gerückt bekommen. Die Frage ist, wie sich jetzt ein Management der Zukunft ausrichten wird, denn die letzten zwei, drei Manager-Generationen waren aus meiner Sicht mit solchen Grundsatzfragen in dieser geballten Form nicht konfrontiert. Aus meiner Perspektive wird also die Qualität in Richtung des Managements eine immer größere Anforderung werden.

Stichwort "Rohstoffpreise": Was bedeutet das in der Praxis?

Ich möchte das gar nicht in diesen einzelnen Kategorien rund um Rohstoff, Inflation oder Verfügbarkeit im Einzelnen betrachten, sondern miteinander verheiraten. Für mich ist das eine Art magisches Dreieck. Wir haben drei Eckpunkte, die ein Management oder eine Geschäftsführung sehr stark im Auge behalten muss. Der eine Eckpfeiler ist das Thema rund um die Profitabilität und die finanzielle Stabilität des Geschäftsmodells. Der zweite wesentliche Punkt ist die kontinuierliche, notwendige Investition: Wir haben aus Sicht dieser großen, übergeordneten Linien wie CO2-Reduzierung oder De-Globalisierung ganz gezielt Investitionen zu machen, die hier auch einen nachhaltigen Mehrwert mit sich bringen. Der dritte Pfeiler ist das permanente Optimieren der Ressourcen Vorprodukte, Mitarbeitende, Geldmittel, die wir zur Verfügung stehen haben. Entscheidend sind hier die sich einengenden Verfügbarkeiten.

Bei diesem Wechselspiel ist diese Profitabilität zwingend erforderlich. Das hat nichts damit zu tun, Einkaufspreise auf den Kunden abzuwälzen. Es wird erforderlich, zusätzliche Deckungsbeiträge diesbezüglich zu generieren, da sich die Kostenoptimierungen oder-reduzierungen in dieser Gesamtsituation nicht als nachhaltig erfolgreich erweisen werden. Diese Diskussion zwischen Profitabilität, Investitionen und diesem kontinuierlichen Optimieren wird die Herausforderung der Zukunft sein, ohne dabei die Orientierung zu verlieren. Das Wechselspiel in diesem Dreiecksverhältnis ist gekonnt zu fahren. Gut beraten ist, wer die Einbindung externer Berater zulässt. Denn für mich ist eins vollkommen klar: Die Unternehmenssteuerung in der neuen Normalität ist ein Teamplay von internen und externen Ressourcen über alle Hierarchiestufen hinweg.

Was wäre ein konkreter Tipp, um optimal aufgestellt zu sein? Und was kommt nach der Analyse der unterschiedlichen Einflussfaktoren?

Preisabwälzungsstrategien sind wichtig, und dabei im Auge zu behalten, wie preisdurchsetzungsstark ich bin. Sprich, bin ich in einer preisführenden oder in einer preisnehmenden Situation? Wie ist mein Geschäftsmodell ausbalanciert – Aus Sicht der finanziellen Stabilität im Hier und Jetzt und der Notwendigkeiten für die Zukunft. Bekomme ich es organisch hin, dieses Geschäft weiterzuentwickeln und die Profitabilität zu steigern? Oder muss ich über anorganischen Einkauf eine Stabilität herbeiführen? Aus meiner Sicht werden demnach auch M&A-Aktivitäten eine weiterhin große und bedeutende Rolle in diesem Umfeld spielen.

Wagen wir abschließend den Blick in die Glaskugel, wenngleich wir nicht wissen, was passieren wird: Wohin steuert die Wirtschaft in Europa Ihrer Meinung nach? Was leitet sich aus Ihrer Einschätzung für die Praxis des Unternehmens ab?

Wir haben in einem globalisierten Umfeld sehr stark von der Globalisierung profitiert. Drehen wir also dieses Szenario um und kommen schrittweise in eine De-Globalisierung, werden wir, aus Sicht Europas und im speziellen Deutschland, einen bestimmten Preis dafür zahlen. Das bedeutet, wir werden die Skaleneffekte der Globalisierung in Teilen verlieren. Um den Skaleneffekten etwas entgegenzusetzen, werden wir sinnvolle Investitionen tätigen müssen. Diese Investitionen werden ebenso in die Automatisierung und Digitalisierung laufen, um auch hier die Skaleneffekte ein Stück weit zu kompensieren. Wir werden eher mit Risiken als mit Chancen konfrontiert sein. Denn auch die De-Globalisierung und die Diskussion, zum Beispiel von China rein in eine binnenorientierte Wirtschaft, wird uns das Wachstum etwas nehmen. Wir haben sehr lange von der Wachstumsthematik dieser großen Gebiete gelebt. Die Chance, in Zukunft erfolgreich zu sein, gemessen an dem Risiko, dies nicht zu sein, hat sich in eine ungünstige Gesamtsituation entwickelt. Die Frage ist für mich noch nicht beantwortet, ob wir über einen längeren Zeitraum in einer Seitwärtsbewegung, also einer Stagnation verharren oder ob wir auch zwischendurch in rezessive Phasen münden werden. Diese Frage wird auch finanzpolitisch über eine Europäische Zentralbank, über die Fed etc. entsprechend gesteuert.

 

Herr Leßmann, herzlichen Dank für das Gespräch und Ihre Einschätzung.

 

Sie haben Fragen zur Entwicklung der Rohstoffpreise, den Auswirkungen der Inflation oder dem De-Globalisierungstrend? Schreiben Sie gerne direkt unserem Experten.

 

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