Materialknappheit, Lieferstopps, steigende Energiekosten. Nachhaltigkeitsziele, Digitalisierung und Elektromobilität: Die Automobilbranche steht wie kaum eine andere unter Transformationsdruck. Sie ist genötigt, sich zu wandeln, muss sich neu erfinden, muss Bewährtes hinterfragen – wie Netzstrukturen, Verträge und Vertriebssysteme.
Und das tut sie auch. Neue Geschäftsmodelle drängen auf den Markt. Wir blicken heute auf eines, das so neu nicht ist, aber aktuell mit aller Kraft ausgerollt wird: das Agenturmodell.
Viel diskutiert, viel kritisiert, aber auch angenommen. Warum? Wie zukunftsweisend ist es? Was bringt es? Was birgt es? Womit werden jahrzehntelang bestehende Geschäftsbeziehungen zwischen Herstellern und Händlern konfrontiert? Und kann sich das Agenturmodell gleichermaßen für Hersteller, Händler und Endkonsument:innen rentieren?
Ein Gespräch mit Jan Brandt, Interim Manager und Experte für Turnaround und New Business Models.
Alle sprechen vom Agenturmodell. Was ist falsch am bewährten Händlervertrag?
Er ist viele Jahrzehnte alt – genauer gibt es Händlervertragssysteme seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Formel ging auch sehr lange auf: Die Automobilhersteller entwickelten und produzierten Fahrzeuge. Über Landesgesellschaften und Importeure organisierten sie den Vertrieb. Die Händler kauften die Ware auf Basis von Jahreszielvereinbarungen und auf eigenes unternehmerisches Risiko. Sie kalkulierten marktrelevante Preise und brachten die eingekaufte Ware dann offline in den Markt. Diese Formel begann aber schon weit vor der Pandemie nicht mehr aufzugehen.
Warum?
Der Automobilmarkt war massiv davon bestimmt, dass alle Automobilhersteller mehr produzierten, als der Markt hergab. Die Bänder durften nicht still stehen. Sie mussten konstant durchlaufen – ungeachtet dessen, ob der Markt das produzierte Volumen vertragen würde oder nicht. Jede Minute Bandstillstand hätte die Hersteller pro Produktionsstrecke zwischen 25 und 30.000 Euro gekostet! Es kam zum Überangebot. Und zu einem riesigen Verdrängungswettbewerb, der durch Zuschüsse und Preisnachlässe weiter befeuert wurde.
Welchen Effekt hatte das auf Händlerseite?
Das Geschäft stieß deutlich an seine Grenzen. Es wurde schlicht und einfach krank. Die Händler konnten die Zielvereinbarungen mit den Herstellern nur schwer einhalten. Der Kostendruck – vor allem durch Bestandskosten – stieg. Die Leistungsseite war schwierig zu beherrschen, Bestände bauten sich auf. Die Händler benötigten immer mehr Boni und Zuschüsse, um den Vertriebsdruck zu kompensieren. Sie nutzten zunehmend auch ihre eigene Marge, um den Abverkauf zu sichern und Bestandsrisiken zu beherrschen. All das führte in der Regel dazu, dass Händler finanziell ins Straucheln gerieten.
Die Bestandsrisiken werden ja nun durch das echte Agenturmodell wegfallen.
Richtig, ein Händler, der jetzt dem Agenturmodell zustimmt, kann sich deutlich entlasten: Er hält das Bestandsrisiko aus seinem Geschäft raus. Denn im bisherigen dreistufigen Vertriebsmodell – Hersteller, Vertriebsgesellschaft, Handel – mussten die Händler die Überproduktion der Hersteller praktisch kompensieren. Das hat sehr viele Kosten verursacht, die nur zum Teil durch die Hersteller mitgetragen wurden. Auf Herstellerseite betragen die Gesamtvertriebskosten etwa 20 bis 30 Prozent. Davon sind allein 10 bis 15 Prozent Kosten in Form von zusätzlichen Verkaufsfördermaßnahmen und monetären Unterstützungsprogrammen.
Klingt gut. Vor allem für die Hersteller. Was ändert sich für sie noch durch das Agenturmodell?
Sie übernehmen die komplette Preishoheit, sowohl im Offline- als auch im Online-Vertrieb. Denn beim Neuwagengeschäft läuft es ja größtenteils so: Kund:innen informieren sich online, stellen ihren Wagen über den herstellerseitigen Car-Konfigurator zusammen und erhalten dann den Listenpreis. Aber wo kauft man schon zum Listenpreis?
Für die Preisnachlässe fährt man zum Händler.
Genau. Und das ist tatsächlich eine der größten Hürden für Konsument:innen: Schon 2020 gaben in einer Umfrage von Capgemini 91 Prozent der befragten potenziellen Kund:innen an, sich vorstellen zu können, künftig direkt beim Hersteller zu kaufen. Sofern der Kaufprozess abgesichert ist. Genau das ändert sich im Agenturmodell: Der Hersteller gewinnt den direkten Kund:innenkontakt. Und die Preisfindungshoheit. Egal wo – on- oder offline: Überall wird der gleiche Preis gelten. Der Händler behält aber dennoch eine wichtige Funktion: Er ist vor Ort der Ansprechpartner für die Kund:innen. Zum Beispiel für Detailberatungen, Probefahrten, Auslieferung und Inzahlungnahme der Gebrauchtwagen. Folgend auch für Services und Aftersales-Leistungen.
Trügt der Eindruck oder ziehen die Händler – demnächst: Agenten – eher den Kürzeren?
Ich behaupte, es bringt den Agenten eher Chancen. Das Stichwort “Bestandsrisiko” fiel bereits. Die Wahrheit ist: Das Bestands-Handling stellt einen wesentlichen Kostenfaktor für die Automobilhändler dar. Diese Kosten fallen durch das Agenturmodell weg. Die zentrale Preiskalkulation löst auch den Intrabrand-Wettbewerb auf, ein weiterer wesentlicher Ertragsfresser. Händler derselben Marke müssen nicht länger im Preiswettkampf zueinander stehen. Es wird tendenziell weniger Preisnachlässe geben, die aus der eigenen Tasche durch den Händler mitfinanziert werden müssen.
Durch die Verknüpfung des Offline- und Online-Vertriebs und die zentrale Preishoheit des Herstellers rechnen die Hersteller mit einem Zugewinn des Absatzvolumens um 2 bis 4 Prozent. Außerdem besteht für den Agenten die Chance, dass Themen wie Fahrzeugüberbewertung und Eintauschüberpreise bei Inzahlungnahme von Gebrauchtwagen weitgehend wegfallen. Insofern sind da einige Kostenvorteile drin, die auch die heutigen Händler deutlich entlasten werden.
Dennoch gibt es Berichte, dass viele Händler dem Agenturmodell noch kritisch gegenüber stehen.
Solvente Händler, die bislang kein Problem hatten, große Fahrzeugbestände durchzufinanzieren, bei denen auch das Bestandsrisiko in der Vergangenheit kein Thema war, die stehen dem Agenturmodell sicher kritischer gegenüber. Auch hatten große Handelsgruppen gegenüber ihren Branchenkollegen deutlich bessere Konditionen. Aber im Grunde ist es so: Was Händler zukünftig im Agentursystem weniger an Marge gewinnen – denn sie erhalten ja nur eine Vermittlungsprovision, keine komplette Vertriebsmarge mehr – dem steht doch eine immense Kostenentlastung gegenüber. Aus meiner Sicht lohnt unbedingt die wirtschaftliche Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten.
Wenn nun der Gang zum Autohändler entfällt, weil Kund:innen zukünftig direkt beim Hersteller kaufen, und wenn Hersteller wie Mercedes weniger Niederlassungen und kleinere Verkaufsflächen anstreben: Zieht das nicht auch Stellenabbau bei den Händlern nach sich?
Das weniger. Denn, wie zuvor beschrieben, die Händler werden auch zukünftig eine wichtige Rolle im Automobilvertrieb haben. Aber ihre Rolle wird sich sicher verändern. Klassisch beschäftigen Autohäuser im Vertrieb Verkäufer:innen, die den Kunden- und Vertriebsprozess absichern. Einige Hersteller haben an eben diesem Rollenmodell gearbeitet: BMW hat beispielsweise – neben klassischen Verkäufer:innen, die ausschließlich den Verkaufsprozess steuern – zusätzlich die Stelle der Produktberater:innen geschaffen – die sogenannten "BMW Product Genius". Sie beraten Kund:innen produktseitig.
Andere Hersteller testen derzeit neue Rollen wie zum Beispiel den "Mobilitätsberater". Denn die neuen Modelle werden auch digital komplexer und sind – unter anderem im Rahmen der Elektromobilität – erklärungsbedürftiger. Für größere Autohausgruppen rechnet sich definitiv auch ein eigenes Customer Contact Center und, in dessen Weiterentwicklung, ein Business Development Center, um die Kund:innen intensiver betreuen zu können. Hier kommt es wirklich auf die Kompetenzen der Mitarbeiter:innen – neudeutsch: der Agents – an.
BMW begründet sein geplantes Agenturmodell mit den verändernden Erwartungen der Konsument:innen, mit der Digitalisierung und dem Online-Verkauf. Die Customer Journey rückt immer weiter in den Fokus, hieß es in einer Pressemitteilung. Vor welche Herausforderungen stellt diese Entwicklung auch die Kommunikation und IT von Händlern und Herstellern?
Und nicht zu vergessen: auch der Landesgesellschaften und Verbände. Die auf den einzelnen Vertriebsstufen eingesetzten ERP, Vertriebs- und CRM-Systeme unterscheiden sich stark. Für das zukünftige Agenturmodell müssen ganzheitliche durchgängige Systemanpassungen vorgenommen werden – vom Hersteller bis zum Handel. Die Daten der Kund:innen müssen zukünftig zentral vorgehalten werden, damit daraus individuelle Bedarfe abgeleitet werden können. Denn in Datensilos gespeicherte Daten erschweren eine konsistente Interaktion.
Meiner Meinung nach ist das Beherrschen des Kunden- und Fahrzeug-Datenmanagements einer der größten Erfolgsschlüssel im gesamten Change-Prozess. Und eine große Chance – für Händler und Hersteller zugleich. Denn sobald sie gemeinsam ihre Strukturen und Arbeitsweisen anpassen, ihre Kosten eingrenzen und Vertriebsansätze modernisieren, wird ihr Geschäft profitieren.
Gibt es bereits Cases, die erfolgversprechend sind? Bei denen sich das Agenturmodell gelohnt hat?
Noch gibt es relativ wenig Erfahrungswerte aus dem bisherigen Roll-out. Aber ein Blick in die Vergangenheit gibt etwas Aufschluss: Nach der Wende arbeiteten einige Hersteller mit ihren neu erschlossenen Automobilhändlern in den neuen Bundesländern im Rahmen von Agentursystemen zusammen. Damals hat das Agenturmodell dafür gesorgt, dass sich diese Händler mit begrenztem Risiko neu am Markt positionieren konnten. Da aber herstellerseitig die Händler neben der Vertriebs- auch als Pufferfunktion für Fahrzeugbestände gebraucht wurden, wurden die damaligen Agentursysteme in Händlerstrukturen überführt.
Was beobachtest Du aktuell? Gibt es – außer Tesla und Polestar – Player, die es richtig machen?
Ich beobachte zahlreiche asiatische Newcomer, die auf den europäischen Markt drängen. Sie bringen keine Vertriebs- und Servicestrukturen aus der Vergangenheit mit, dafür aber neue Konzepte. Der Online-Vertrieb und das Agenturmodell sind für sie eine von vornherein angestrebte Vertriebsstruktur. Damit erreichen sie auch eine völlig andere Durchschlagskraft! Die bekannten Player müssen dagegen erst die althergebrachten Vertriebsstrukturen überwinden und lernen, mit dem Wandel Schritt zu halten.
Was verrät Dir der Blick in die Zukunft? Kann das Agenturmodell auch in anderen Branchen funktionieren?
Auf jeden Fall: Das Agenturmodell aus der Automobilbranche wird anderen Industrien und Branchen als Blaupause dienen können. Beispielsweise arbeiten auch Hersteller von technischen Geräten, Gebrauchsgütern und Landmaschinen mit ähnlich strukturierten Vertriebs- und Serviceorganisationen. Einige Unternehmen aus dem Bereich Haushaltsgeräte wenden das Agenturmodell bereits sehr erfolgreich an, zum Beispiel Miele. Viele Markenhersteller können sich sicherlich an diesem Wandel, der aktuell durch die Automobilbranche geht, orientieren. Es bleibt in jedem Fall spannend.
Hochinteressant! Vielen Dank für Deine Ausführungen, Jan.
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