Lieferkettenprobleme? Bei diesem Stichwort dürften sich viele an die Corona- Pandemie zurückerinnert fühlen. Waren es damals in erster Linie gestörte Transportwege und Produktionsausfälle in Fernost, die insbesondere deutschen Automobilherstellern zu schaffen machten, ist es diesmal die brisante Lage in der Zulieferbranche. enomyc-Autor Wolfram W. Hackbarth erklärt, warum ihre Sandwich-Position für große Lieferanten so gefährlich ist und wie Hersteller und große Lieferanten die Konsolidierungswelle nutzen können.
Gute Nachrichten aus der Automobilindustrie gab es in jüngster Zeit eher selten. Während die Hersteller mit Absatzproblemen und Konkurrenz aus Asien zu kämpfen haben, rollt bei den Zulieferern längt die Pleitewelle. Allein in Deutschland stehen in den nächsten Jahren mehrere Zehntausend Arbeitsplätze vor dem Aus.
Die Krise der Zulieferer –, vor allem der kleinen, sogenannten TIER2-Lieferanten, die die größeren (TIER1-) mit ihren Vorprodukten beliefern – zieht in der gesamten Branche immer weitere Kreise, denn jeder TIER2-Lieferant, der in Bedrängnis kommt, kann die für die Industrie so lebenswichtige Lieferkette ins Wanken bringen. Statt – wie früher – in der komfortablen Position als Brückenbauer zwischen OEMs (Original Equipment Manufacturer) und TIER2-Lieferanten, finden sich viele TIER1-Zulieferer aktuell in einer höchst risikoreichen Sandwich-Position wieder: gefangen zwischen den Erwartungen der Autohersteller, die für ihre Produktion auf stabile Lieferketten angewiesen sind, und der kritischen Lage ihrer Sub-Lieferanten, die jederzeit eskalieren kann.
Fällt ein TIER2-Lieferant plötzlich aus – sei es durch Insolvenz, Fachkräftemangel oder durch die Übernahme eines insolventen TIER2-Lieferanten durch einen finanziell ebenfalls angeschlagenen Wettbewerber – stehen bei den TIER1-Lieferanten sofort alle Ampeln auf Rot. Gerade in kritischen Phasen wie An- oder Hochläufen von Fahrzeugprogrammen und Neuapplikationen kann ein Ausfall dramatische Konsequenzen haben, denn Produktionsausfälle, Lieferverzögerungen und zusätzliche zeitkritische Dauerläufe können die zusätzlichen Kosten für die Lieferanten schnell in siebenstellige Höhen treiben. OEMs und TIER1-Zulieferern müssen Ausfälle in der laufenden Serienfertigung, aber auch im Aftermarket-Geschäft und weiteren Bereichen fürchten.
Kostendruck, Komplexität und Fachkräftemangel setzen kleineren Zulieferern besonders zu
Aber woran liegt es, dass so viele TIER2-Lieferanten derzeit massive Probleme haben?
Die Ursachen sind vielfältig. Zum einen treiben hoher Margendruck und steigende Materialkosten gerade kleinere Zulieferer immer häufiger in die Krise. So ist die Zahl der Insolvenzen deutscher Automobilzulieferer im vergangenen Jahr gegenüber dem Vorjahr um mehr als 30 Prozent gestiegen.
Ein anderer Grund ist der Fachkräftemangel. Weil qualifizierte Mitarbeiter fehlen, können viele Unternehmen ihre Produktionskapazitäten nicht ausweiten – selbst, wenn die Auftragsbücher voll sind. Wer mit Produktionsengpässen zu kämpfen hat, ist für TIER1-Lieferanten aber kein zuverlässiger Partner. Auch im Alltaggeschäft finden etwa viele Gießereien kaum noch die Spezialisten, die sie im Machining-Bereich oder bei hoch energieaufwendigen Prozessen wie Wärme-, Härte- und Vergütungs- sowie Ofenprozessen brauchen. Anlagenbediener und Fachpersonal für zwingend notwendige Nachtschichten oder auch qualifizierte Wartungs- und Instandhaltungsspezialisten sind in vielen Regionen Mangelware.
Schließlich sorgt die zunehmende Elektrifizierung und Digitalisierung von Fahrzeugen für eine steigende Komplexität bei Bauteilen und Baugruppen. Lieferanten müssen aufwändig qualifiziert werden, um die entsprechenden Teile herstellen zu können. Das wiederum verlängert die Begleitungsphase, die nötig ist, um sicherzustellen, dass die Zulieferer auch im Serienbetrieb unter hoher Volumenbelastung zuverlässig arbeiten.
Warum die Sandwich-Position für TIER1-Lieferanten so gefährlich ist
Ist ein TIER2-Lieferant kurzfristig ausgefallen, müssen TIER1-Lieferanten alles dafür tun, um den Schaden so gut wie möglich zu begrenzen. Neue Lieferanten müssen gesucht und gefunden werden. Ist ein alternativer Anbieter identifiziert, muss dieser in den meisten Fällen zunächst aufwändig qualifiziert werden. Denn um die Sicherheits- und Qualitätsstandards der Automobilindustrie zu erfüllen, haben die neuen Bauteile unter anderem umfangreiche Freigabe- und Dauertests zu absolvieren. Diese Tests werden von den OEMs oder von Engineering-Servicedienstleistern vorgegeben, die im Auftrag der OEMs tätig sind – und sie sind im Regelfall sehr aufwändig und kostenintensiv.
Vertragliche Verpflichtungen bergen weiteren Zündstoff: So sind TIER1-Lieferanten häufig an strenge Liefergarantien und SLA (Service Level Agreements) gebunden. Ist die Lieferkette gestört, können die Verträge meist nicht eingehalten werden. Das kann im schlimmsten Fall Konflikte und hohen Schadensersatzforderungen nach sich ziehen.
Konsolidierungswelle bei TIER2-Lieferanten: Worauf TIER1 und OEMs achten müssen
Ein noch weitaus kritischeres Ereignis mit tiefgreifenden Implikationen für die gesamte Wertschöpfungskette ist die vollständige Übernahme eines TIER2-Lieferanten. Sie erschließt einerseits Chancen, Skaleneffekte und technologische Synergien zu nutzen oder Fertigungskapazitäten weiter zu optimieren. Andererseits ergeben sich aus einer Übernahme auch umfassende technische und wirtschaftliche Herausforderungen:
- Freigabeprozesse und Produktionsstandortwechsel
OEMs und TIER1-Zulieferer müssen jeden neuen Produktionsstandort freigeben. Dieser Prozess umfasst umfangreiche Zertifizierungs- und Qualitätssicherungsprüfungen, die Monate bis Jahre in Anspruch nehmen können. Ein Produktionsverlagerungsprozess erfordert außerdem Investitionen in neue Maschinenqualifizierungen, Produktionsvalidierungen und Prozessanpassungen. Auch die Einhaltung von branchenspezifischen Normen wie IATF 16949 und VDA 6.3 muss sichergestellt werden. - Substitutionskosten bei Wechsel des Unterlieferanten
Ist ein TIER2 nicht mehr lieferfähig oder infolge einer Konsolidierung vollständig verändert, muss in der Regel ein alternativer Lieferant gefunden werden. Entwicklungs- und Validierungskosten für neue Werkzeuge und Fertigungsprozesse rangieren schnell im hohen zweistelligen Millionenbereich. Die Integration eines alternativen TIER2 kann außerdem hohe Anlaufkosten nach sich ziehen, weil neue Schnittstellen zu bestehenden ERP-, Logistik- und Qualitätssicherungssystemen programmiert werden müssen. - Verfügbarkeit von Bauteilen für Serienfertigung, Aftermarket und CKD-Geschäft
Eines der größten Risiken beim Ausfall eines TIER2 sind Lieferverzögerungen durch Produktionsumstellung, denn sie ziehen unmittelbare Engpässe in der laufenden Serienfertigung nach sich. Die fehlende Versorgung mit Ersatzteilen führt aber zu Ausfällen im Aftermarket-Geschäft, was insbesondere bei Langzeitverpflichtungen von OEMs und Garantieabwicklungen problematisch ist. Completely Knocked Down-Programme (CKD) erfordern besonders stabile Lieferketten. Fällt ein TIER2 kurzfristig aus, drohen in internationalen Montagewerken der TIER1 und OEMs Produktionsstillstände – und horrende Schadensersatzforderungen.
Raus aus dem Zangengriff: So können TIER1-Lieferanten ihr Risiko senken
Um Szenarien wie die oben skizzierten zu vermeiden, müssen TIER1-Lieferanten aktiv gegensteuern. Mithilfe von vier Maßnahmen lässt sich das Risiko, durch einen Lieferkettenausfall selbst in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten, zuverlässig reduzieren:
- Frühzeitige Risikoerkennung: Ein kontinuierliches Monitoring von TIER2-Lieferanten ist unerlässlich. Regelmäßige Bonitätsprüfungen und Lieferantenbewertungen helfen, finanzielle und operationale Risiken frühzeitig zu identifizieren und gegenzusteuern. enomyc hat auf dieser Basis ein erprobtes Frühwarnsystem (PART = Pro Active Radar Tool) insbesondere für TIER1 und OEMs als aktives Praxiswerkzeug im Einsatz und optimiert dieses stetig weiter. Die Basis bilden neben den Stammdaten und Informationen der TIER2-Lieferanten eine strukturierte technische Risiko- und Validierungsanalyse, beispielsweise anhand der Produktbaukastenstückliste, der eingesetzten Fertigungs- und Verfahrenstechnologie des TIER2 sowie einer Simulation und Erstbewertung der Kosten für Test- und Dauerlauf der substituierten Komponenten durch TIER1 und OEMs. Neben der Kostenerstbewertung liefert das System auch eine realistische Einschätzung der Projektzeitschiene mit Meilensteinen und Phasen für Prototypen, Muster und PPAP-Zielterminen.
- Diversifizierung der Lieferantenbasis: Die Konzentration auf wenige Lieferanten birgt stets große Risiken. Eine breitere Lieferantenbasis verbessert die Resilienz gegen plötzliche Ausfälle. Vor allem bei und TIER1-Lieferanten von technisch anspruchsvollen Baugruppen oder Produkten, für die sich bestimmte TIER2-Lieferanten im Rahmen des Produktlebenszyklus eine besondere Expertise in der Fertigungstechnologie erarbeitet haben, empfiehlt sich eine Dual Sourcing-Strategie, also die Zusammenarbeit mit mindestens zwei voneinander unabhängigen Anbietern.
- Partnerschaften und Kooperationen: Wenn TIER1-Lieferanten und OEMs eng zusammenarbeiten, können Risiken frühzeitig erkannt und Probleme gemeinsam behoben werden. Externe Experten mit ausgewiesener Branchen- und Prozesskenntnis können Unternehmen dabei unterstützen, Risiken unter anderem durch die Entwicklung und Implementierung von Frühwarnsystemen gezielt vor solchen Krisen zu schützen.
- Digitale Supply-Chain-Lösungen: Technologien wie Künstliche Intelligenz und Blockchain bieten neue Möglichkeiten, Lieferketten in Echtzeit zu überwachen und transparente Abläufe zu gewährleisten. In der aktuellen betrieblichen Praxis hat sich die PART-Analyse erfolgreich etabliert, weil sie sehr schnell und zielorientiert eine Erstbewertung der TIER2-Lieferanten darstellt.
Fragile Lieferketten: Vorsorge ist das A und O
Die aktuelle Situation in der Automobilindustrie stellt insbesondere viele TIER1-Lieferanten vor enorme Herausforderungen. Die erfolgreiche Integration eines neuen TIER2-Lieferanten erfordert umfangreiche technische Freigabeprozesse und zieht hohe Kosten nach sich. Ohne strategisches und proaktives Risikomanagement wächst das Risiko von Produktionsausfällen, finanziellen Einbußen, aber auch bleibenden Reputationsschäden in der Zusammenarbeit mit den OEMs.
Von einem vorausschauenden Risikomanagement und stabilen, resilienten Lieferketten profitieren am Ende alle Beteiligten: TIER2-Lieferanten, TIER1-Lieferanten und die OEMs. Langfristig braucht es mehr Kooperation, Transparenz und Offenheit für neues Denken, um die aktuelle Krise zu entschärfen.