Unternehmen in der Krise: Hit it hard and hit it early
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War die Krise früher die Ausnahme, ist sie im Zuge von Pandemie und Kriegen zum Dauerzustand geworden. Auch in den Unternehmen hat sie derzeit wieder Konjunktur. enomyc-Gründer und Managing Partner Martin Hammer hat weit mehr als tausend Unternehmen in der Krise erlebt – und viele erfolgreich herausgeführt. Ein Gespräch über Krisenursachen, -symptome und die Tarragona-Strategie, die nicht nur in der Medizin ein bewährtes Konzept ist.


Herr Hammer, den Deutschen wird eine gewisse Lust am Untergang nachgesagt. Wenn man sich die steigenden Insolvenzzahlen ansieht, scheinen sie nicht ganz falsch zu liegen. Ist die Stimmung schlecht, die Lage oder beides?

Die Lage ist sehr ernst. Was mir besonders Kopfschmerzen bereitet, sind die Selbstzufriedenheit und das Mittelmaß, die sich bei uns breitgemacht haben. Wir verwalten uns nur noch, statt zu gestalten – und zwar in Politik und Wirtschaft. Eine überbordende Bürokratie, der schleichende Niedergang der einst führenden Automobilindustrie, ein Maschinenbau, der nicht mehr investiert, die chemische Industrie in Teilen am Abgrund … Sogar Pharmaunternehmen, jahrzehntelang die Garanten für hohe Renditen, stehen jetzt bei uns auf der Restrukturierungsliste ganz oben. Befeuert durch das jahrzehntelang billige Geld haben die Manager in vielen Unternehmen aufgehört, ihre Strategie regelmäßig zu hinterfragen. Im Zweifel ließen sich die strukturellen Probleme einfach mit neuem Geld zukleistern. Das rächt sich jetzt in doppelter Hinsicht. Für mich hat die aktuelle Lage insgesamt zwei Gesichter: Als Bürger dieses Landes bin ich wenig zuversichtlich. Als Restrukturierer und Sanierer kann ich sagen: Die Zeiten könnten nicht besser sein.

Aber nicht aus jedem Krisen- wird ein Sanierungsfall, oder?

Wir unterscheiden grundsätzlich fünf Phasen von Unternehmenskrisen. In der ersten Phase sprechen wir von einer strategischen Krise. In der Folge kommt es zu einer Fehlallokation von Kapital, Personal oder anderen Faktoren. Zwar ist der Bedrohungsgrad in einer strategischen Krise hoch, aber das Management hat noch ausreichend Gestaltungsspielraum. Je weiter sich die Krise zuspitzt, desto kleiner wird der. 

Strategische Krise klingt recht existenziell… Und das ist nur die erste Stufe?

Ja. Nach der strategischen Krise kommt die Produkt- und Absatzkrise. In der steckt ein Unternehmen zum Beispiel dann, wenn Märkte falsch eingeschätzt werden – wie etwa beim Thema E-Auto. Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass China uns mit Elektroautos für weniger als 20.000 Euro auf unserem Heimatmarkt angreifen würde? Jetzt verlieren deutsche PKW-Hersteller massiv Marktanteile. In einer Absatzkrise schwinden die Erträge und Unternehmen schlittern schnell in eine Erfolgskrise. Wenn das Ruder in dieser Situation nicht beherzt herumgerissen wird, geht der Umsatz zurück und Sie bekommen ein Liquiditätsproblem. Sind die Kapazitäten dauerhaft nicht ausgelastet und es fallen über einen längeren Zeitraum Verluste an, tritt fast zwangsweise die Überschuldung ein. Das ist die fünfte und letzte Stufe. Dann stehen Sie direkt am Abgrund.

Wo ist aus Ihrer Erfahrung – immerhin rund 1.400 Projekte im Mittelstand – der Punkt erreicht, an dem gehandelt werden muss, wenn man das Unternehmen nachhaltig aus der Krise führen will?

Eine Intervention sollte im Idealfall erfolgen, bevor das Unternehmen Marktanteile verliert, also in der Produkt- und Absatzkrise. In dieser Phase kann man noch viel erreichen. Wir haben zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass mindestens acht von zehn unserer Kunden ein Vertriebsproblem haben. Hier waren Preiserhöhungen in den vergangenen zwölf Monaten „name of the game“. Durch geschickte Preisanpassungen und Sortimentsstrukturierungen helfen wir Unternehmen, Umsatzrückgänge schnell und effizient zu kompensieren.

Warum lassen sich viele Manager nicht helfen, obwohl es deutliche Anzeichen für eine Krise gibt – wie Sie berichtet haben, etwa in Form von Vertriebsproblemen?

Weil die Krise verschleiert wird oder ihre Symptome von den Beteiligten sehr unterschiedlich bewertet werden. Dadurch verliert man wertvolle Zeit. 

Welche Rolle spielen externe Partner wie Finanzierer oder etwa Warenkreditversicherer in diesem Zusammenhang?

Kreditprüfung von einer Krise Wind bekommt, ist es meistens schon zu spät. Außerdem halten kreditgebende Banken auch Sanierungsfälle oft viel zu lange auf der Marktseite. Das macht eine spätere Sanierung umso schwieriger. Warenkreditversicherer haben dagegen ein deutlich sensibleres Frühwarnsystem. Dieser Wissensvorsprung gibt ihnen die Möglichkeit, mehr oder minder lautlos auszusteigen und ihr Risiko zu minimieren. Wenn einem Unternehmen der Warenkreditversicherer abspringt, kann das also ein Indiz dafür sein, dass es der Firma nicht besonders gut geht.

Haben sich die Ursachen für Unternehmenskrisen in den vergangenen Jahren eigentlich verändert? Ich nenne nur die Stichworte Zinswende, Inflation, Ukraine…

Diese Faktoren spielen aktuell eine gewisse Rolle, sind an sich aber nicht neu. Wir unterscheiden zwischen exogenen Krisenursachen wie makroökonomischen oder politischen Entwicklungen, rückläufigen Absatzmärkten oder steigendem Wettbewerbsdruck und hausgemachten, sogenannten endogenen Ursachen. Dazu zählen ineffiziente Kostenstrukturen, mangelnde Transparenz und natürlich auch Fehler des Managements.

Wie machen sich diese Punkte im Alltag bemerkbar?

Unsere Erfahrung zeigt, dass Unternehmen, die bei der Kostendisziplin nachlassen, in der Folge häufig Krisenkandidaten werden. Auch ein unfähiges Management führt naturgemäß zu Problemen. Manche Führungskräfte überschätzen sich und sind beratungsresistent. Auch Defizite in der Finanzbuchhaltung können in die Krise führen. Dabei ist es ganz einfach: Wenn die wirtschaftliche Lage des Unternehmens nicht transparent ist, kann man auch nicht die richtigen Schlüsse ziehen.

enomyc ist bekannt dafür, mittelständische Unternehmen erfolgreich aus der Krise zu führen. Was braucht es dafür?

Aus meiner Erfahrung sind drei Zutaten entscheidend: Erstens brauchen Sie den Konsens der Beteiligten, dass sich das Unternehmen tatsächlich in einer Krise befindet. Zweitens braucht es Entschlossenheit, etwas dagegen zu tun. Dazu gehören die zeitnahe Beauftragung eines geeigneten Beraters und ein realistisches Sanierungskonzept. Außerdem muss das Sanierungskonzept schnell und konsequent umgesetzt werden.

Das erinnert mich an die sogenannte Tarragona-Strategie in der Medizin. Da geht es um die Behandlung von Intensivpatienten mit Infektionen. Einer der Leitsätze lautet: Hit hard and early.

Das passt auch im Sanierungskontext sehr gut.

Wie kann ich frühzeitig feststellen, dass sich eine Krise anbahnt?

Dass Sie es frühzeitig feststellen, ist in der Tat entscheidend. Denn je später die Krise erkannt wird, desto schlechter sind die Erfolgsaussichten für einen Turnaround. Wer wissen will, wie es seinem Unternehmen wirklich geht, der braucht Zahlen, aus denen sich ein Ursache-Wirkungszusammenhang ableiten lässt. Rein finanzwirtschaftliche Auswertungen liefern diese Informationen nicht. Wichtig sind leistungswirtschaftliche Kennzahlen, am besten in einem Cockpit zusammengeführt.

Welche Entwicklungen in den verschiedenen Unternehmensbereichen können ein Hinweis auf eine Krise sein?

Wenn ein Unternehmen immer weniger Geld für Neuentwicklungen ausgibt, langfristige Lieferverträge gekündigt werden oder Zahlungsziele plötzlich ausgeschöpft werden, anstatt wie früher á Skonto bezahlt zu werden, dann können das Hinweise auf eine sich anbahnende Krise sein. Auch eine hohe Personalfluktuation oder Qualitätsprobleme sollten hellhörig machen. Zu jedem Symptom gibt es geeignete Messgrößen. Das können die Entwicklungsausgaben bezogen auf den Umsatz sein, aber auch die Hit-Rate im Vertrieb oder die Reichweite der Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen in Tagen.

Können Sie uns zum Abschluss noch etwas Tröstliches mit auf den Weg geben?

Wenn ich in den vergangenen Jahren etwas gelernt und vielfach bestätigt bekommen habe, dann ist es die Erkenntnis, dass auch in ausweglos scheinenden Fällen oft noch viel zu machen ist – vorausgesetzt, alle Beteiligten sind bereit, der Wahrheit schonungslos ins Gesicht zu sehen.  Und vorausgesetzt, sie sind willens und in der Lage, den Sanierungsplan schnell und konsequent umzusetzen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hammer.

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