Trügt der Eindruck oder gehen Energiekrise und Rezession aktuell auf Lasten der Nachhaltigkeitsziele? Rücken sie bei deutschen Unternehmer:innen verstärkt in den Hintergrund oder werden sie jetzt erst recht populär?
Diese Fragen stellen wir der Wirtschaftswissenschaftlerin und Executive Consultant Bessie Fischer-Bohn im aktuellen Interview. Sie sagt: “Ökonomisches und bewusstes Wirtschaften haben einen weitreichenden Impact. Und Strahlwirkung – auch auf Finanzierer.”
Gerade im Sanierungs- und Restrukturierungsgeschäft kommt es inzwischen auf mehr als nur die klassischen Hard Facts an.
Worauf achten Kapitalgeber:innen jetzt verstärkt? Welche Rolle spielt der Generationswechsel im Hinblick auf die Erfüllung der ESG-Ziele? Und wie sehen erste Maßnahmen für eine nachhaltige Strategie und Zukunftssicherung aus?
Was ist Ihr aktueller Eindruck, Frau Fischer-Bohn: Rücken die Nachhaltigkeitsziele deutscher Unternehmen – in Anbetracht der Energiekrise und Rezession – in den Hintergrund? Oder gewinnen sie eher an Popularität?
Eventuell rücken die Nachhaltigkeitsziele durch die aktuelle Berichterstattung in den Hintergrund. Und vielleicht auch in dem zunächst vordergründigen Bewusstsein von Unternehmer:innen und CEOs. Das ist menschlich. Aber der Punkt ist: Bestimmte Ziele sind einfach durch die EU festgelegt. Und ebenso durch deutsches Recht. Ich beobachte, dass – ausgelöst durch die Energiekrise – auch eher bewusstes Haushalten mit Energie und bewusstes Wirtschaften die Themen der Stunde sind.
Noch ein Thema der Stunde ist “Kosteneffizienz”. Jetzt in ESG-Maßnahmen zu investieren, fällt vielen Unternehmen sehr schwer. Welche ESG-Maßnahmen kosten denn nichts – außer vielleicht ein Umdenken?
Da gibt es einige. Um eine Maßnahme zu nennen, die nichts kostet: Die Haltung eines Unternehmens gegenüber ökologischen und sozialen Themen sowie zu Unternehmens- und Personalführung. Werte, die entwickelt und nach außen getragen werden sollten. Viele davon existieren bereits in Unternehmen, sind aber noch nicht Teil einer transparenten Firmenphilosophie. Damit bleiben sie unsichtbar in der Außendarstellung. Hierfür die Ist-Analyse anzustellen, ist eine erste Maßnahme, die nicht viel kostet.
Was kostet es Unternehmen, wenn sie nicht in ESG-Maßnahmen investieren?
Im schlimmsten Fall ihre Kund:innen. Ein Beispiel bilden Lieferanten und Lieferketten. Die ESG-Auflagen definieren zunehmend, welche Kriterien entlang von Lieferketten erfüllt sein müssen. Wenn aber Umweltschutz und Menschenrechte missachtet werden, wenn Lieferanten wiederholt durch die Register der Lieferantenbewertungen fallen, werden sie nicht länger beauftragt.
Nun denkt fast jedes vierte von 600 befragten Unternehmen darüber nach, Unternehmensanteile, Teile der Produktion und Arbeitsplätze ins günstigere Ausland zu verlagern. Oder hat das bereits getan. Das sind die Ergebnisse einer Blitzumfrage des BDI. Steht diese Entwicklung nicht den ESG-Zielen im Weg – Stichworte: faire Löhne, kurze Lieferketten, weniger Emissionen?
Jetzt Aufgaben ins Ausland zu verlagern, kann Teil eines Notfallplans sein. Aus meiner Sicht ist das aber zu kurz gedacht. Auf Dauer kann diese Entscheidung den Unternehmen auf die Füße fallen. Denn welche Außenwirkung wird damit befeuert? Das positive Image eines Unternehmens hängt ja zunehmend – gerade für die jüngeren Generationen – davon ab, ob Firmen im Kern umdenken. Und eben nicht in alte Muster verfallen, sobald es eng wird. Wir stehen vor einem wichtigen Generationswechsel – sowohl in der Führungsriege als auch in der Belegschaft. Die nachrückenden Talente legen den Fokus auch darauf, wie nachhaltig ein Unternehmen in der Krise agiert. Handelt es ganzheitlich nachhaltig? Sind seine Lieferketten sauber? Die Frage, die über allem steht, lautet zunehmend: "Für oder mit wem arbeite ich?".
In der Situation, in der sich einige Unternehmen jetzt gerade befinden, könnte das als Luxusproblem anmuten.
Ja, das stimmt. Und es könnte auch nur auf einer bestimmten Unternehmensebene verortet werden. Aber Fakt ist: Dass Unternehmen nachhaltig agieren, ist kein Trend. Nachhaltigkeit ist ein Dauerbrenner und wird zunehmend auch für alle Beteiligten wichtig werden. Ich habe erst kürzlich eine interessante Beobachtung gemacht – und habe sie in einem Artikel der WiWo auch bestätigt gesehen. Es ging um das Kaufverhalten bei höherpreisigen Bio-Lebensmitteln. Würden Endkonsument:innen sie trotz steigender Inflation weiterhin kaufen? Es zeigte sich: Ja, würden sie. Die Konsument:innen wollten nicht von Bio-Lebensmitteln abweichen. Aber sie wollten dafür weniger ausgeben. Bio wird deswegen nun verstärkt im Discounter gekauft statt im Bio-Laden. Das nennt sich "Trading down effect". Und er zeigt mitunter: Bio ist keine Mode. Es ist eine grundsätzliche Entwicklung, die sich weiter durchsetzen wird. Genauso wird es sich meines Erachtens auch mit der Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele und der Bewertung von Unternehmen verhalten.
Denken Sie, dass nachhaltige Visionen und Strategien auch im deutschen Mittelstand angekommen sind? Und wenn ja: Wo sehen Sie aktuell die Schwerpunktlegung in Deutschland – eher auf dem "E", "S" oder "G"?
Ich denke, der deutsche Mittelstand hat gar keine Wahl. Der Green Deal formuliert und fordert die Erfüllung der ESG-Ziele. Die EU-Taxonomie soll sie bewerten. Aber auch darüber hinaus denke ich: Die Dringlichkeit zur Ergreifung von ESG-Maßnahmen ist definitiv im deutschen Mittelstand angekommen. Aktuell sehe ich das "E" – also die ökologische Säule, den Klimaschutz – sehr weit vorne. Hier ist bisher am wenigsten getan worden und der Anspruch muss weiter steigen. Die soziale Säule, das "S", sehe ich in Deutschland, vergleichsweise zu anderen EU-Ländern, besser erfüllt. Unter anderem durch viele Tarifverträge oder auch Gleichstellungsziele. Diese müssen allerdings noch besser erreicht werden.
Wie sieht es mit dem "G" aus: Governance, also guter Führung?
Für die Berichterstattung zur Nachhaltigkeit zum Bereich “Führung” gibt es in Deutschland bestimmte Vorlagen, einen Codex. Aber die weitaus größere Chance für den deutschen Mittelstand, der ja zum größten Teil aus dem Unternehmer:innentum erwachsen ist, sehe ich im aktuellen, massiv stattfindenden Generationswechsel. Die nächste Generation der Führungskräfte greift die ESG-Thematik ganz anders auf, da ist viel mehr Bewegung drin.
Wie genau greift die nächste Generationen die Thematik auf?
Die nächste Generation bewertet den Nutzen von ESG neu und sie wendet ihn auch auf sehr natürliche Weise an. Aus meiner Sicht wesentlich selbstreflektierter mit einem offenen, international ausgerichteten Blick. Ein Beispiel: Nehmen wir die Auflagen für nachhaltige Lieferketten. Ich beobachte, dass jüngere Generationen in ihnen mehr Potenzial erkennen: Nachhaltige Lieferketten bilden die Grundlage für ein gutes Stakeholder-Management. Das wiederum bindet alle Beteiligten eines Unternehmens mit ein. Und so können auch modernes Unternehmer:innentum und modernes Leadership gelebt werden: mit Offenheit, Transparenz und Nachhaltigkeit. Das sind die neuen Werte. Und wenn ich an dieser Stelle den Bogen zurück zur aktuellen Krise spannen darf: Solche Unternehmen sind übrigens sehr attraktiv und hochinteressant für Kreditinstitute. Für Banken, Venture Capitalists und andere Kapitalgeber:innen.
Womit wir beim Stichwort “Sustainable Finance” wären: Ob Unternehmen Finanzierungen erhalten, hängt auch zunehmend von ihrer "Enkelfähigkeit" ab. Selbst Investor:innen und Aktionär:innen halten gezielt nach Unternehmen Ausschau, die bewusst wirtschaften. Welche Entwicklungen beobachten Sie hier?
Ich beobachte, dass das Umdenken längst bei den Finanzier:innen eingesetzt hat. Denn ob ein Unternehmen zukunftsfähig ist oder nicht: Darüber geben nicht länger nur die Hard Facts – also Zahlen, Finanzen und Kosten – Aufschluss. Im Sanierungs- und Restrukturierungsgeschäft bewerten Gutachten die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens auch hinsichtlich seiner Nachhaltigkeitsziele. ESG-Kriterien sind zur Messgröße avanciert. Beispielsweise der Bereich Technologie: Wie weit ist das Unternehmen auf die Zukunft eingestellt? Hält es Schritt mit der digitalen Transformation? Auch Diversity-Maßnahmen flankieren die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens. Studien belegen längst, dass diverse Teams besser performen. Für Kapitalgeber:innen resultieren daraus unweigerlich die Fragen: Wie heterogen ist die Belegschaft des Unternehmens? Wird Chancengleichheit gelebt? Gibt es eine ausgewogene Geschlechter- und Altersvielfalt? Erst wenn die Bewertung eines Unternehmens nachhaltig positiv ausfällt, werden Finanzierungswege beschritten.
Fassen wir zusammen, dann braucht es Haltung, es braucht ein modernes Mindset und es braucht Regularien, um Unternehmen nachhaltiger zu gestalten. Was geht Unternehmen – außer Finanzierungen – durch die Lappen, wenn sie zögern, eine nachhaltige Strategie zu entwickeln – und sie auch nach außen hin darzustellen?
Sie werden Talente, Zielgruppen, Geschäftspartner:innen kaum halten oder dazugewinnen können. Nehmen wir das Beispiel Fachkräftemangel. Der wurde ja schon lange angekündigt. Nun ist er da. Gerade der deutsche Mittelstand, der meist nicht in Großstädten angesiedelt ist, hat es schwer, Fachkräfte zu binden und neue einzustellen. Geplante und bestehende ESG-Maßnahmen weiterzuentwickeln, sie transparent und authentisch nach außen hin zu kommunizieren, ist eine riesige Chance für Unternehmen. Sie machen damit sich und ihre Positionierung sichtbar. Sie zeigen ihr Vorhaben und laden Talente dazu ein, sie auf ihrem Weg zu mehr Klimaschutz, mehr sozialem Handeln und guter Führung zu begleiten. Das ist sehr attraktiv für Talente, die gestalten und sich einbringen wollen. Und – nicht zu vergessen: Solche Unternehmen haben eine Vorbildfunktion. Sie animieren andere, es ihnen nachzutun. Diese Vorteile, diese Dynamik und Strahlwirkung sollten sich Unternehmen nicht durch die Lappen gehen lassen.
Was empfehlen Sie Unternehmen, die sich auf den Weg machen: Welche ersten Schritte führen zu einer treffenden Selbstwahrnehmung und den richtigen Maßnahmen für die Zukunft?
Ich empfehle zunächst die Erfassung des Status quo: Wie nachhaltig agiert das Unternehmen bereits? Was davon ist schon spruchreif? Und wo liegt die nächste Etappe? Für diese erste niederschwellige Ist-Analyse gibt es schon gute frei zugängliche Fact Sheets und Check-Listen. Die Ergebnisse daraus schlagen im Übrigen wunderbar den Bogen zum eigenen Qualitätsmanagement. Eventuell wird dann klar: Die nötigen Prozesse sind bereits im Unternehmen verankert. Im nächsten Schritt sollten die Ergebnisse aus der Analyse mit den geltenden ESG-Auflagen abgeglichen werden. Welche Prozesse matchen bereits mit ihnen? Welche müssen neu definiert werden? Mit diesen ersten Schritten entwickeln Unternehmen ohne großen Aufwand einen guten Startpunkt – den sie auch schon nach außen kommunizieren sollten. Denn das Wichtigste ist, anzufangen. Das nächste, es auch zu zeigen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Fischer-Bohn.
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