Während viele noch im Urlaub sind oder gerade frisch erholt zurückkehren, laufen sich die Einkäufer der großen Automobilhersteller und ihre „Kontrahenten“, die Vertriebsprofis der Lieferanten, längst für die anstehenden Preisverhandlungen warm. In diesem Jahr dürften die Gespräche besonders schwierig werden, denn vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) steht das Wasser bis zum Hals.
Aufgeben ist trotzdem keine Option. Wer offen für Veränderungen ist, hat jetzt trotz allem gute Chancen, neue Potenziale zu erschließen, meint enomyc-Autor Wolfram Hackbarth.
Herr Müller ist Geschäftsführer eines mittelständischen Automobilzulieferers. Sein Unternehmen hat sich in dritter Generation auf Zerspanung, die Montage von kleineren Baugruppen sowie die Oberflächenveredelung und Beschichtung einzelner Komponenten spezialisiert und erwirtschaftet jährlich einen mittleren zweistelligen Millionen-Umsatz.
Als sein Telefon klingelt, ist die Chef-Einkäuferin seines Ankerkunden am Apparat. Sie arbeitet für eins der großen Tier1-Unternehmen in Deutschland. Ohne Umschweife kommt sie zur Sache: Sie erkundigt sich über Kennzahlen für ihre Produkte und Commodities. Und sie möchte natürlich über Preisreduktionen und Einsparungen sprechen, außerdem über Rückerstattungen für 2022.
Herr Müller winkt ab. Er argumentiert mit Preiserhöhungen für Energie und Rohstoffe in der Produktion, verweist auf Kostensteigerungen für Verpackung, Mehraufwand in der internen Logistik und auf exorbitant gestiegene Frachtkosten.
Das Gespräch wird zunehmend ungemütlich. Beide Seiten haben gute Argumente für ihre Position. Eine Fortsetzung des Gesprächs ist aber nur dann sinnvoll und möglich, wenn sich beide emotionslos auf Zahlen, Daten und Fakten fokussieren. Doch gerade da hapert es bei kleinen und mittelständischen Unternehmen oft: Aktuelle und relevante Daten über Kosten, Produkt-Deckungsbeiträge oder Optimierungspotenziale innerhalb ihrer Wertschöpfungsstufen und Prozesse sind häufig nicht zur Hand. Die Folge: Die Verhandlungspartner agieren nicht auf Augenhöhe, viele Zulieferer fühlen sich am Ende „über den Tisch gezogen“.
In solchen Situationen leisten bewährte Praxistools und Handlungsempfehlungen einen wichtigen Beitrag, um faktenbasiert aktives Risikomanagement betreiben zu können, Vertrauen zu schaffen und die eigenen Kundenbeziehungen nachhaltig zu stärken.
Komponenten- und Teilelieferanten haben einen besonders schweren Stand
Das ist umso wichtiger, als sich die Zuliefererbranche seit einigen Jahren mit einer wachsenden Fülle von Anforderungen konfrontiert sieht. Balanced Burden, Advanced Supplier Development Management, nachhaltige und energiebewusste Lieferbeziehungen, faire Systempartnerschaften sowie strategische Kunden-Lieferanten-Beziehungen sind nur einige der Buzzwords in der aktuellen Diskussion zwischen OEM (Original Equipment Manufacturer) und Tier1-Lieferanten gegenüber ihren nachgeordneten Zulieferern und Technologiepartnern.
Ambitionierte Einkaufsziele der OEM und Tier1- System-/Modullieferanten setzen Tier 2- und Tier 3-Supplier, die vor allem Komponenten und Teile liefern, unter massiven Kostendruck. Waren die vergangenen Monate pandemiebedingt vor allem von reduzierten Losgrößen, noch mehr Produktvarianz, extremen Kundenabrufschwankungen und hohen Investitionen durch die Umstellung auf Elektro-Mobilität geprägt, machen galoppierende Energiekosten und eine zunehmende Inflation den Unternehmen jetzt zusätzlich das Leben schwer. Weitere Themen auf der Geschäftsführungsagenda: strukturelle Veränderungen im Mobilitätsbereich, Produktveränderungen und geforderte Bauteilgewichtsreduzierungen durch neue Antriebsformen sowie die Rückführung der mit der Low Cost Country-Strategie verbundenen Verlagerung der lohnintensiven Produktion nach Osteuropa. Alle diese Aufgaben müssen die Unternehmen neben den betrieblichen Herausforderungen des Alltagsgeschäfts zusätzlich bewältigen. Viele mittelständische Zulieferer haben aber die Leistungsfähigkeit ihrer wirtschaftlichen Existenz längst überstrapaziert.
Schonungslose Transparenz schafft Perspektiven für die Zukunft
Wie können Unternehmen in dieser Situation wirtschaftliche „Beinfreiheit“ zurückgewinnen und wieder als Partner auf Augenhöhe wahrgenommen werden? In unseren Projekten haben sich die folgenden Maßnahmen und die entsprechenden Tools bewährt und in anstehenden Verhandlungen „bezahlt“ gemacht:
Die wichtigsten kurzfristigen Handlungsfelder und -empfehlungen:
- Kosten und Investitionen
Viele Unternehmen haben keine echte Kostentransparenz in Bezug auf das aktuelle und zukünftige Produktportfolio auf Basis von Erzeugnis-Klassen, Produktfamilien und Baugruppen. Auch eine potenzielle Erweiterung von Service- & Dienstleistungen als Ad on-Ansatz zur Wertschöpfungserweiterung und Steigerung der leistungswirtschaftlichen Prozesse sollte in Betracht gezogen werden.
Unterstützende Praxistools: Technologie-Kernkompetenzanalyse, Produkt-Leiterzeugnis-Analyse, MoB-Analysen, Kurzbewertung der Entwicklungs- und Technologie Roadmap sowie die standardisierte Sourcing-Strategie-Prüfung.
Unternehmen sollten jetzt außerdem ihre Investitionsstrategie kritisch hinterfragen. Vor allem die Großinvestitionen für Fertigungsmaschinen und Montageanlagen gehören unter die Lupe. Können diese in den nächsten Jahren voll ausgelastet werden oder ist es ggf. zielführender, ein umfassendes Refurbishment von bestehenden Maschinen, Anlagen und Einrichtungen umzusetzen und Auslastungsoptimierung in den Fokus zu nehmen?
Praxistools: Werksstrukturplan, Produktionssystemanalyse, Fertigungs-/Montagetechnologie Benchmark, Investitionsberechnungen und ROI-Analysen. - Personalentwicklung und Motivation
Die Themen Motivation, Mitarbeiterförderung sowie die gezielte (Weiter-) Entwicklung von Schlüsselpersonal führen in vielen KMU ein Schattendasein. Auch hier spielt die Mobilitätswende eine zentrale Rolle: Welche Fertigungsverfahren und Montagekonzepte kommen künftig zum Einsatz? Können diese mit Boardmitteln und bestehendem Mitarbeiter-Know-how abgedeckt werden oder werden für die künftige Produktion, Service und Leistungserstellung neue Ressourcen benötigt? Unternehmen müssen sowohl ihre fachlichen als auch organisatorischen Kompetenzen in Bezug auf anstehende Veränderungen und notwendiges Transformationsmanagement hinterfragen.
Praxistools: Werksstrukturplan, Produktionssystemanalyse sowie Führungsmodell- und Führungskräfteanalyse. - Lieferantenmanagement
Gerade für kleine und mittelständische Autozulieferer ist es besonders wichtig, ihre Lieferketten und Kernlieferanten im Auge zu behalten und die Beziehungen durch Kooperation und entsprechende Kommunikation nachhaltig zu stabilisieren.
Praxistools: Wertstromanalyse von Schlüssellieferanten und verlängerten Werkbänken. - Kostenmanagement
Aktives Kostenmanagement in den leistungswirtschaftlichen Bereichen und Wertströmen minimiert die Risiken. Engpässe und Verluste in der Produktion und an Schnittstellen müssen identifiziert und beseitigt werden.
Praxistools: Wertstromanalyse, Produktionssystembewertung, aktive Zeitwirtschaft und Simulation von Einsparpotenzialen bei Einsatz eines flexiblen Leistungsentgeltsystems in den leistungswirtschaftlichen Bereichen. - Liquiditätssicherung
Auch in den Bereichen Liquiditätssicherung und Debitorenmanagement haben viele Mittelständler großen Nachholbedarf.
Praxistools: Integrierte Liquiditätsplanung und Debitorenmanagementtool.
Die wichtigsten Tipps für die mittel- und langfristige Ausrichtung auf eine erfolgreiche Zukunft
- Kosten reduzieren
Hier geht es insbesondere um die Straffung nicht-wertschöpfender Funktionen, den Abbau von Stabstellen und nicht notwendigen Schnittstellen sowie den Abbau von Überkapazitäten in der Produktion.
Praxistools: Overhead Analyse & Personaleinsatzplanung vs. Produktionskapazitätscharts auf Basis von Produktfamilien und Segmenten, Erzeugnis-Klassen und Teilwertströmen. - Produktportfolio analysieren
Das Produktportfolio sollte insbesondere im Hinblick auf kundenvertraglich fixierte Volumina, Auftrags- und Abrufschwankungen kontinuierlich aktiv bewertet werden, denn diese können den Organisations- und Dispositionsaufwand erhöhen und den Deckungsbeitrag einzelner Produkte und Produktfamilien reduzieren. Konsequente Verlustbringer müssen abgestoßen und beim Kunden abgekündigt werden. Alternativ lässt sich über eine „Balanced Burden“-Strategie häufig eine wirtschaftliche Kompensation auf Vollkostenbasis generieren.
Praxistools: Leiterzeugnisverfolgung und Produktcontrolling. - Profil schärfen
Unternehmen müssen ihre Kern- und Standardfähigkeiten in Bezug auf Wertschöpfungsprozesse in Produktion und Fertigungstechnologie sowie ihr Montage-Know-how kennen, schärfen und vertiefen. Essenziell ist außerdem eine klare Technologiestrategie.
Praxistools: KSS-Analyse, Entwicklungs- und Technologie Roadmap. - Leistung verbessern
Prozessverluste müssen durch konsequente Wertstromorientierung radikal eliminiert und Durchlaufzeiten beschleunigt werden.
Praxistools: Produktionssystemanalyse, Wertstromanalyse, Block-, Bubble-, Spaghetti-, Taktzeit-Diagramme. - Trends und Anforderungen beobachten
Aktuelle Technologieentwicklungen müssen aktiv gescreent werden, um die Produktion wettbewerbsfähig zu halten. Auch veränderte Kunden- und Marktanforderungen und industrielle Trends wie I4.0 sollten beobachtet und im Hinblick auf Relevanz für neue Geschäfts- und Servicemodelle für das eigene Unternehmen überprüft werden. Ziel ist eine ständig lernende und sich agil entwickelnde Organisation.
Praxistools: Werksstrukturplan & Entwicklungs- und Technologie Roadmap, Technologie-Benchmarks. - Ökosystem etablieren
Andere können vieles besser – manchmal sogar billiger. Deswegen sollten sich kleine und mittelständische Firmen organisatorische und technische Entlastung suchen, etwa durch die Nutzung von Shared Services im Bereich Payroll, Personalmanagement (Recruiting, On- & Offboarding), beim technischen Gebäude- und Energiemanagement oder der Wartung und Instandhaltung von Maschinen, Anlagen und Einrichtungen. Auch bei der Weiterentwicklung von Applikationen, Prototypen und Vorserien können externe Partner wertvolle Unterstützung leisten, etwa in Gestalt einer Digital Twin-Strategie in Kooperation mit Maschinenherstellern und Lohnfertigern.
Praxistools: Kostentreiber-Analyse der Sach- und Servicekosten, Entwicklungs- und Technologie-Roadmap, Zeitwirtschaft- und Arbeitsplananalyse.
Trivial, aber wahr: Die Krise birgt immer auch Chancen
Keine Frage: Kleine Automobilzulieferer haben derzeit keinen leichten Stand. Zu den vielen bereits genannten Themen gesellen sich unter anderem infolge des Ukraine-Krieges und der angespannten konjunkturellen Lage weitere Risiken wie die extreme Verteuerung von Energie, Rohstoffen und sonstigen Produktionsfaktoren, fragile Lieferketten und chronischer Facharbeitermangel.
Gleichzeitig bietet die angespannte Lage agilen und veränderungsbereiten Unternehmen gute Möglichkeiten, sich jetzt für eine erfolgreiche Zukunft auszurichten: sei es durch neue Geschäftsmodelle, neue Partner oder eine komplette Reorganisation der Wertschöpfungsstufen innerhalb der Leistungswirtschaft.