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Guss aus China, Montage in Osteuropa: Im Zuge der Globalisierung strebte die deutsche Wirtschaft lange Zeit nach internationalen Geschäftsbeziehungen. Es galt Faktorkosten-Unterschiede auszunutzen. Local Sourcing mutete dagegen eher rückläufig an. Gar als spießig oder “Old School”. 

Bis die Pandemie und Lockdowns Lieferketten kappten, ein Hurricane in Texas tobte und ein Frachter im Suezkanal stecken blieb. Da wurde umso mehr klar, wie anfällig – und auch abhängig – Deutschlands Industrie von gewissen Grundstoffen ist.

Mehr noch: Die ESG-Auflagen und Klimaziele zwingen die Wirtschaft aktuell mehr denn je zum Überdenken ihrer Lieferketten. Lange Transportwege und internationale Geschäftsbeziehungen mit “Best Cost Countries” werden zunehmend hinterfragt. 

Wie wird die Logistik der Zukunft aussehen – aussehen müssen? Wie kann die deutsche Wirtschaft Rohstoffknappheit und fragile Lieferketten umgehen? Wo steckt das Innovationspotenzial der Zukunft? Und: Wird Kirchturm-Sourcing wieder zum Trend?

Ein Ausblick mit Dr. Stefan Frings, Partner bei enomyc.

 

Dr. Frings, wie abhängig ist Deutschland von Rohstoffen aus dem Ausland?

Deutschland war schon immer ein rohstoffarmes Land und ist auf den Import aus anderen Ländern angewiesen. Die Frage, die sich aktuell stellt, ist: Welche – bislang aus dem Ausland bezogenen oder ins Ausland verlagerte – Güter können im Inland produziert werden? Ein Beispiel: Traditionell wurden Chips auch in Deutschland bzw. Westeuropa hergestellt. Ich denke an Siemens-Halbleiter, später Infineon. Sie hatten große Werke in Deutschland und bauten Ende der 1990er eines der modernsten Halbleiter-Werke der Welt in England auf. Dieses wurde aber direkt vor der Inbetriebnahme wieder geschlossen. Es gab also bereits enormes Potenzial zur inländischen oder europäischen Produktion von Chips in der EU. 

Der Mangel an Halbleiter ist spürbar. Wer heute einen Neuwagen bestellt, muss sich auf lange Lieferzeiten einstellen. Welche Rohstoffknappheiten haben Sie im vergangenen Jahr noch beobachtet? Und welche Branchen sind besonders stark betroffen?

Es waren einige. Von Folien über Kabel: Es gab 2021 eine richtige Kunstoffkrise. Auch fehlte es massiv an Magnesium. Das hat wiederum den Aluminiumpreis in die Höhe getrieben. Ein Hauptauslöser dafür war der Hurricane "Ida" in Texas. Der fegte wie eine Lawine über den schon ohnehin weltweit vorherrschenden Mangel an chemischen Grundstoffen. Zuvor ausgelöst durch pandemiebedingte Produktionsstopps.

In der Chemie ist das Ausgangsprodukt der Einen bekanntlich das Eingangsprodukt der Nächsten. So zieht sich der Mangel bis heute durch die gesamte Branche. Auch Stahl ist knapp. Und Holz. Was diese Branche betrifft – die Holzwirtschaft, das Baugewerbe, die Möbelindustrie: Sie sind allesamt stark betroffen. Nur um ein Produkt ganz explizit zu nennen: Paletten fehlten streckenweise gänzlich. 

Sie nennen die Pandemie als Auslöser. Den Hurricane in Texas als nachgelagerte Lawine. Welchen Effekt hatte die zusätzlich auf Grund gelaufene Evergreen im Suezkanal?

Durch sie sind die Transportraten nochmal dramatisch gestiegen. Aktuell liegen sie bei 20.000 $ und mehr. Darunter leiden die Unternehmen natürlich erheblich. Nicht jedes Unternehmen kann die Transportkosten an die Kund:innen weitergeben.

Sind das nicht schon drei Faktoren, die direkt ein Umdenken auslösen sollten? 

Absolut. Ich denke, Deutschland und Europa werden gewisse Prozesse aus den vergangenen Jahren intensiv überdenken müssen. Vor einigen Jahren hieß es noch: Firmen, die keine Lieferantenrechnungen in Dollar bekämen oder keine Teile in Asien produzierten, hingen in Sachen "Globalisierung" hinterher. Heute ist das Beziehen von Produkten aus “Best Cost Countries” – was die Versorgungssicherheit betrifft – doch deutlich zu hinterfragen.

Denn: Eine Versorgungssicherheit führt grundsätzlich zu geringeren Kosten. Wenn Lieferungen aber wackelig sind, dann brauchen Unternehmen Alternativquellen. Und die wiederum, sofern vorhanden, sind immer kostenintensiver. Beispiel Guss: Ich bin mir sicher, dass solche verlagerte Komponenten in Zukunft anderweitig überdacht werden. Überdacht werden müssen.

Das erinnert mich an das Stichwort “Kirchturm-Sourcing”. Sie nannten es in unserem Interview im April 2020 – zu diesem Zeitpunkt als Alternative für weiterverarbeitende Unternehmen, um an dringend benötigte Rohstoffe zu gelangen. Hat sich lokales Sourcing seitdem zum neuen alten "Trend" entwickelt? Oder rechnen Sie in Zukunft damit?

Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass sich an der globalen Arbeitsteilung fundamental etwas ändern wird: Ich rechne mit mehr Tendenzen zum Local Sourcing innerhalb Europas. Die Industrie wird sich ein Stück weit auf das besinnen, was mal erfolgreich war. Und dazu gehören auch Lieferanten, die in der Nähe sind. Also, ja: Ich rechne damit, dass einzelne Unternehmen in Zukunft auf Lieferanten "rund um den Kirchturm" zugreifen werden. 

Nur, was tun, wenn der Rohstoff an sich knapp ist? Sie nannten die Holzindustrie als besonders betroffene Branche. Wie kann sie denn wieder festen Tritt finden?

Krisen sind immer ein Innovationskatalysator. Sie nötigen zum Finden neuer Lösungen. Jedes Unternehmen, jede Industrie wird sich jetzt einem Risiko-Assessment unterziehen müssen. Auch beispielsweise die holzverarbeitende Industrie. Sie sollte prüfen, welche Materialgruppen und Vorprodukte sie hat. Woher sie sie bezieht. Und sie wird auch ihre Lieferketten ehrlich bewerten müssen. Einige Leitfragen für ein Risiko-Assessment sind: Wie sicher oder gefährdet sind unsere Lieferketten? Kann es Engpässe geben? Wenn ja, welche Alternativquellen gibt es? Und auch welche Möglichkeiten bieten sich an, um am Rohstoff selbst zu sparen? Gibt es eventuell Substitutionsprodukte? Und Innovationspartner in der Nähe?

Innovationspartner in der Nähe…

Ja, absolut. Denn um schneller zu sein als der Wettbewerb, bedarf es Innovation. Und die geht immer mit einer Innovationspartnerschaft einher. Haben Unternehmen Lieferanten, mit denen sie eine Wertschöpfungspartnerschaft eingehen können, dann wird es auch auf ihre Innovationsfähigkeit und Innovationsgeschwindigkeit einzahlen. 

Was sind aus Ihrer Sicht weitere konkrete Benefits aus lokalem Sourcing?

  1. Risikominimierung: Regional Sourcing – hiermit meine ich auch die EU und allgemein Europa – schließt kürzere Transportwege ein. Und die sind erfahrungsgemäß weniger anfällig für Unterbrechungen und Stopps. 

  2. Planbarkeit: Materialverzögerungen ziehen eine lange Kette an Konsequenzen nach sich. Sind die Lieferketten aber sicher, kann auch durchweg weiter wie geplant produziert werden. Das sichert auch die Liquidität.
  1. Kostenvorteile: Dass die Transportkosten dauerhaft teurer werden, nannte ich bereits. Schon deswegen sind kürzere Transportwege preislich attraktiver. Zusätzlich aber sorgt Liefersicherheit für pünktliche Auslieferungen. Und die wiederum für Kundenzufriedenheit und pünktliche Einzahlungen. 
  1. Klimaziele und Nachhaltigkeitsfaktoren: Regionales Sourcing wirkt sich positiv auf die Klimabilanz aus. Unternehmen, die in gewissen Teilen regionales Sourcing betreiben, werden auch die ESG-Auflagen leichter erfüllen können.
  1. Neue und alte Geschäftsbeziehungen: Regionales Sourcing knüpft neue, aber belebt auch alte Geschäftskontakte in der Nähe. Sicher sind hier die vereinfachten Kommunikationsprozesse ein großer Vorteil. 

Gibt es Cases, die Ihnen zuletzt in Sachen Local Sourcing aufgefallen sind?

Ja, ein Beispiel ist Bianchi, eine italienische Traditionsmarke für Fahrräder. Wer in den vergangenen zwei Jahren versucht hat, sich ein neues Fahrrad zu kaufen oder auch nur einzelne Teile, hatte es nicht leicht. Warum? Weil ein Großteil dieser Komponenten aus Asien kommt und die Lieferzeiten inzwischen sehr lang sind. Bianchi baut, um die eigene Produktion wieder fortzuführen, aktuell sein eigenes Werk in Italien. Bis August 2022 soll es fertiggestellt sein.

Auch der große deutsche Fahrradhändler und -hersteller Rose aus Bochholt sprach sich zuletzt in der Wirtschaftswoche für vermehrte Produktionsstätten in der EU aus. In diesem Zusammenhang rechne ich damit, dass Regional Sourcing in der EU zum Erfolgsbaustein wird. Und damit auch das Siegel “Made in Germany”. Das war es ja in der Vergangenheit bereits.

Vielen Dank für Ihre Einschätzungen, Herr Dr. Frings. 


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