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OTC-Branche: Was sollte sie sich vom FMCG-Marketing abschauen?
14:38

Die Obsession eines langen und gesunden Lebens beschert der Healthcare Branche Boom auf Boom. Vitamine, Supplements und Nootropika. Diätetische Lebensmittel für Muskelaufbau und Gewichtsreduktion. Pflanzliche Arzneimittel zur Prävention und Genesung: allesamt rezeptfrei und damit “Over The Counter” (OTC) in Apotheken und Drogerien erhältlich. Während einige Pharmahersteller hier sehr erfolgreich agieren, verpassen es andere, relevant zu werden oder es zu bleiben. Wo hapert’s?

"Ich habe noch nie ein OTC-Unternehmen in der Krise erlebt, dem Pharma- oder Produktkompetenz gefehlt hat", sagt der Marketing- und Vertriebsexperte Peter Klein. "Den meisten fehlen digitales Know-How und digitale Marketing-Kompetenz." Klein ist Diplomkaufmann mit Schwerpunkt Marketing und Vertrieb. Er hat in Köln und Trier studiert und war unter anderem in der Geschäftsführung von Unternehmen der Konsumgüter- und Pharmabranche tätig. Heute begleitet er OTC-Produzenten als Consultant und Interim Manager.

Was macht OTC-Produkte erst relevant? Warum sollten sich Pharmahersteller als kundenzentrierte Unternehmen verstehen? Und was verändert “Insta Health” in der OTC-Branche?

Frische Insights und erprobte Handlungsempfehlungen – jetzt im Interview.

Herr Klein, Sie raten OTC-Produzenten, sich die Marketingstrategien der Konsumgüterbranche (FMCG) abzuschauen. Ist das so einfach?

Ich finde schon, denn so weit voneinander entfernt sind die beiden Märkte gar nicht. Gesundheit ist ein Megatrend – zumindest in Industriestaaten. Und damit ist Healthcare auch ein gigantischer Markt. Wir sind längst im “Massen-Konsumgütermarkt” angekommen – das betrifft gleichermaßen Supplements, diätetische Lebensmittel und Phytopharmaka. Was OTC und FMCG unterscheidet: Die Konsumgüterhersteller sind den Druck im Markt- und Wettbewerb gewohnt. Das kommt jetzt zeitversetzt im Pharmabereich an.

Die FMCG-Branche beherrscht ihr Marketing auch deswegen so gut, weil sie intensiv darin investiert. Im OTC sieht das oft anders aus. Wo liegt der Fehler?

Der Fehler liegt darin, dass sich viele OTC-Hersteller nicht als konsumentenzentrierte Unternehmen verstehen. Sie befassen sich deswegen auch nicht ausreichend mit ihrer Zielgruppe. Stattdessen, das erlebe ich oft in der Beraterpraxis, denken sie sehr produktbezogen: technisch, wissenschaftlich und pharmazeutisch – was auch absolut wichtig und richtig fürs Produkt ist. Wie ein pharmazeutisches Produkt oder ein Wirkstoff aber auch modern und zeitgemäß vermarktet wird: Das wird aus meiner Sicht vernachlässigt. Und es liegt auch daran, dass Budgets fürs Marketing eher eingestampft statt ausgeweitet werden.

Das Kürzen oder Streichen von Marketingbudgets hängt oft mit Absatzkrisen zusammen. Wo liegt in der Folge das Risiko?

Vermarktungsbudgets werden in der Krise sogar oft als erste gestrichen. Warum? Weil es einfach ist. Gleichzeitig ist das aber auch sehr kurzfristig gedacht. OTC- und auch andere Unternehmen riskieren so, ihre Krise weiter zu verstärken. Ich rate Unternehmen in Absatzkrisen – natürlich parallel zu Kosteneffizienzprogrammen, zu Sanierungsmaßnahmen und Finanzierungen – ihr Marketing hochzuhalten und in ihre Vermarktungsstrategien zu investieren.

Das klingt erstmal unlogisch.

Das mag sein, aber Unternehmen riskieren sonst, irrelevant zu werden. Und das geht heutzutage sehr schnell. Wenn Unternehmen ihr Marketing in der Krise vernachlässigen, fällt ihnen das früher oder später auf die Füße. Das langfristige unternehmerische Ziel muss ja sein, die eigenen Produkte mehr und auch besser zu vermarkten. Das muss auch in der Krise sorgfältig und gewissenhaft aufrecht erhalten werden. Dann können auch höhere Absätze erwirtschaftet werden, sobald es wieder aufwärts geht. Die Marketing-Budgets dafür müssen noch nicht mal enorm sein.

Sondern?

Schauen wir uns gute Newcomer aus der Konsumgüterbranche an, dann punkten viele – statt mit kostspieligen Werbekampagnen – mit sehr genauer Zielgruppen- und Marktkenntnis. Das Wissen um ihre Konsumenten ist fest in der Unternehmenskultur verankert. Solche Unternehmen verfügen oft auch über klare Kennzahlen zu ihrem Marketing und Vertrieb. Sie betreiben Sales and Operations Planning (S&OP). Um ihr Produkt zu platzieren und ihre Zielgruppen zu erreichen, setzen sie auch auf Online-Marketing und neue Medien – unter anderem auf Healthcare Influencer-Marketing.

Und das ist bei OTC-Herstellern nicht der Fall?

Ich erkenne es bei OTC-Herstellern noch viel zu wenig. Hier sind klassische Werbeplakate und Anzeigen in Apothekenzeitschriften die vorrangige Werbeaktivität. Und die wirkt auch – keine Frage, aber sie spricht Zielgruppen nur begrenzt an.

Was sollten OTC-Produzenten stattdessen oder zusätzlich tun?

Nun, es erfordert eine Transformation – weg vom reinen Pharmahersteller hin zum markt- und konsumentenorientierten Hersteller. Dazu müssen sich OTC-Produzenten wesentlich stärker ihren Zielgruppen zuwenden, sich auf ihre Shopper- und Konsumentenzentrierung fokussieren. Dann können Marketingbudgets auch intelligent angewendet werden. Erfolgreiche Konsumgüterhersteller gehen genau diesen Weg: Sie hinterfragen sehr genau, wer ihr Handel ist, untersuchen, wer ihre Zielgruppen, wer ihre Shopper, wer ihre Konsumenten sind. Warum? Weil sie Bedürfnisse befriedigen möchten. Hersteller sollten, jederzeit wissen, wonach ihre Zielgruppe sucht, was ihr wichtig ist und wo sie sich auch informiert. Woher beschaffen sich Shopper denn die gewünschten Informationen? Wo kaufen sie ein? Welche Bedarfe haben ihre Familien – die Konsumentengruppe?

Stichwort "Customer Journey".

Richtig. Die Customer Journey sehe ich bei OTC-Herstellern stiefmütterlich behandelt. Dabei sollte ihnen die Kette der Informationsbeschaffung bekannt sein. Sie liefert sehr wichtige Erkenntnisse, um auch zunächst mal innovative Produkte zu entwickeln, dann passende Omnichannel-Strategien zu entwerfen und neue Vertriebskanäle zu öffnen – einen eigenen Onlineshop beispielsweise oder verstärkte Präsenz auf großen Online-Shopping-Plattformen. OTC-Hersteller müssen üben, ihre Zielgruppen möglichst früh abzuholen und ihr Produkt gekonnt zu platzieren. Laut meiner Erfahrung nutzen aber viele weiterhin – und auch ausschließlich – die gewohnten Vertriebswege und -kanäle: Arztpraxen, klassische und Online-Apotheken. Das ist okay, reicht heutzutage aber nicht mehr.

Sie sprachen eben Healthcare Influencer-Marketing an: Jüngere Generationen informieren sich – auch pharmazeutisch – zunehmend im Netz und via Social Media. Es ist von "Insta-Health" die Rede: Healthcare- und Ärzte-Influencer liefern Rat und Empfehlungen "at your fingertips". Welchen Effekt hat das?

Schnelle Infos aus dem Netz und speziell die Entwicklung "Insta-Health" sind ein Riesenthema. Ein Effekt ist sicher, dass Konsumenten heutzutage schneller an Rat kommen und auch besser informiert sind als früher. Einzelnen Healthcare-Influencern folgen sie teils millionenfach. Healthcare-Influencer, die ihre "Patient Journey" teilen – also ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Insights zu einem bestimmten Krankheitsbild sind sehr beliebt. Sie liefern Storytelling, ihre Geschichten sind "relatable", nachvollziehbar, authentisch und vertrauenserweckend. Auch angesagt ist fachärztliche Expertise zu speziellen Themen.

Wie lauten folglich Ihre Empfehlungen für OTC-Produzenten?

Ich habe noch nie ein OTC-Unternehmen in der Krise erlebt, dem Pharma- oder Produktkompetenz gefehlt hat. Auch habe ich in vielen Pharmaunternehmen eine exzellente Datenlage beobachtet – von klinischen Studien bis zur Auslastung der Produktionsanlagen und mehr. Aber: Den meisten Unternehmen fehlen einerseits digitales Know-How und Marketing-Kompetenz, andererseits aber auch Daten zu ihren Marktaktivitäten. Das ist fatal, denn Unternehmen gehen so wichtige Insights und KPIs durch die Lappen. In Anbetracht der Entwicklungen empfehle ich Unternehmen dringend, aktiv zu werden und sich digitale Marketing-Expertise anzueignen. Das ist nur der erste Block. Der zweite betrifft den Inhalt.

Sie meinen das Content-Marketing?

Genau, ich empfehle Unternehmen, auf die Weiterentwicklung treffender Kommunikationsstrategien für digitale Medien zu setzen: auf geschicktes Content-Marketing, auf gutes Storytelling. Darauf wird es zunehmend ankommen – auf guten, zielgruppenrelevanten, schnell auffindbaren Inhalt mit messbarem Mehrwert. Der Content sollte wiederum an digitale Touchpoints geknüpft werden: So werden Informationen einfach via Klick verfügbar und auch Produkte schnell auffindbar gemacht – ob auf digitalen Shopping-Plattformen oder in sozialen Medien. Denn Kaufentscheidungen fallen ja nicht mehr rein rational: Sie sind gelegenheitsbasiert. Sie sind spontan, teils emotional. Deswegen sollten die Entscheidungsprozesse der Shopper-Zielgruppe unbedingt auch von OTC-Produzenten antizipiert und in einer Customer Journey abgebildet werden.

Welche Leitfragen helfen in diesem Prozess?

Zunächst mal sollten sich Hersteller fragen, welche Impulse sie im Entscheidungsprozess auslösen wollen. Leitfragen, um dem auf die Spur zu kommen, sind: Zu welchen Anlässen kauft unsere Zielgruppe das Produkt? Sind es echte Kaufentscheidungen, Impuls- oder Gewohnheitskäufe? Gemessen an den Ergebnissen: Wo sollten wir unser Produkt dann auffindbar machen – also: Welche Online-Formate und Inhalte funktionieren für unsere Zielgruppe? Welche auch nicht und wie kann man das messen?

Einige OTC-Hersteller beherrschen das Spiel gut: Meliston, Saltadol und Paracetamol Sanavita gingen aus einem Ranking des Magazins Healthcare Marketing als die drei stärksten "OTC-Wachstumschampions 2023" hervor. Insbesondere Meliston hat seinen Umsatz innerhalb eines Jahres um 1.786 Prozent gesteigert.

Ohne die Marketing-Maßnahmen der Marken zu kennen: Das Ranking ist sehr interessant. Es zeigt: Wenn Marken es richtig angehen, können enorme Chancen in OTC-Produkten stecken. Dazu muss ein Produkt wirksam sein und relevant werden. Es muss gelistet sein und empfohlen werden – von der Apotheke um die Ecke, aber eben auch auf Online-Plattformen über die Bewertungen echter User. Denn im Netz informiert sich die Zielgruppe der Shopper zuerst. Und genau diese Relevanz, gepusht durch Bedarf, Wirkung und Sichtbarkeit, bringt Wachstumschancen.

Mal auf den OTC-Wachstumschampion Meliston übertragen: Das Arzneimittel ist homöopathisch und verspricht bei Angstzuständen zu wirken.

Und beides hat zugenommen: sowohl Angstzustände – wir leben in unsicheren Zeiten – als auch die Nachfrage nach Phytopharmaka statt Psychopharmaka. Die Nachfrage nach pflanzlichen OTC-Produkten steigt sogar weiter – auch Bio-Qualität spielt hier zunehmend eine Rolle.

Auf welche Kriterien achten OTC-Shopper aus Ihrer Sicht noch?

Auf Innovation und Lifestyle. Das betrifft unter anderem innovative Verpackungen: Sind sie praktisch? Sind sie anlassbezogen: Gibt es die Produkte als Probier- oder Reisegröße? Diese Nachfrage ermöglicht OTC-Unternehmen, ihre Produkte noch bedarfsgerechter und zusätzlich mit einem USP weiterzuentwickeln. Denn oftmals wird derselbe Wirkstoff, beispielsweise Efeu, auch von vielen anderen Anbietern verwendet. Wer dabei aber den bedeutenden Unterschied macht – ob im Design oder der Bio-Qualität – und das zusätzlich gut zu vermarkten weiß, gewinnt. Weitere Shopper-Kriterien sind zudem Sicherheit und Verfügbarkeit. Denn was nützt es, wenn ein Arzneimittel über eine gute Wirksamkeit und Zusammensetzung verfügt, aber nicht verlässlich lieferbar ist? OTC-Hersteller müssen den Umsatz und die Frequenz ihrer Produkte ja schließlich zusichern können.

Auch das Pricing spielt eine wichtige Rolle bei Kaufentscheidungen.

Definitiv. Der Faktor Preis hat eine riesige Dimension und wirkt sich überproportional stark auf den Gewinn aus. Wie ist denn die Preisbereitschaft von Menschen in bestimmten Situationen? Auch diese Frage sollten OTC-Hersteller beantworten können und darauf entsprechend reagieren.

Weil die Preise zuletzt auch für OTC-Produkte gestiegen sind, kaufen Konsumenten pflanzliche Arzneimittel verstärkt in Drogerien. OTC wird dann auch als “Battleground” zwischen Apotheken und Drogerien bezeichnet. Und es gibt noch eine weitere Entwicklung, die diese Tendenz verstärken könnte: Jüngere Generationen setzen vermehrt auf Präventivprodukte aus der Drogerie statt auf Arzneimittel aus der Apotheke. Glauben Sie, dieser Trend wird tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen?

Das ist eine interessante Entwicklung und es bleibt abzuwarten, wie es hier weitergeht. Aber der wesentliche Unterschied zwischen Drogerien und Apotheken ist ja: Apotheken machen ihren hauptsächlichen Umsatz über verschreibungspflichtige, also Rx-Medikamente. Deswegen sehe ich in OTC keinen “Battleground”. Aber Fakt ist: Wir hatten zuletzt ein großes Apothekensterben. Aktuell sind es in Deutschland 17.571 Apothekenfilialen, das ist ein historischer Tiefstand. Die größten Probleme der Apotheken sind aktuell: hohe Sach- und Personalkosten, Mehrarbeit durch Lieferengpässe, Arzneimittelknappheit und Fachkräftemangel.

Abschließend: Die Deutsche Apotheker Zeitung titelte im Februar “Rx-Arznei im Drogeriemarkt: Werner will Apotheken ersetzen”. Werner ist der Chef der Drogeriekette dm. Wie halten Sie es damit?

Ich halte das für Polemik. Menschen kaufen gelegenheitsbasiert. Und fühlen sich Menschen akut krank, dann führt der Weg in der Regel zur Apotheke statt zu dm oder Rossmann. Warum? Weil sie pharmazeutisch beraten werden möchten. Und eine Drogerie kann das aktuell noch nicht leisten, auch wenn das kürzlich im Gespräch war. Das andere ist: Wir haben in Deutschland sehr strenge Richtlinien rund um die Zulassung und Vergabe von Arzneimittelstoffen. In den USA ist das beispielsweise anders gelagert, da sind teils antibiotische, Schmerz- und Schlafmittel auch in Supermärkten und Drugstores zugänglich. Das geht hierzulande – aus meiner Sicht: zum Glück – nicht.

Vielen Dank für Ihre Insights, Herr Klein.

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