2022 war für viele Unternehmen ein schwieriges Jahr. Ein noch schwierigeres, um genau zu sein. Während die Corona-Pandemie in Form fragiler Lieferketten auch nach knapp drei Jahren nicht ganz überwunden ist, bilden galoppierende Energiekosten, steigende Zinsen und ein bedrohlicher Personalmangel neue, zusätzliche Risikofaktoren. Ein Interview mit Martin Hammer und Uwe Köstens über die aktuelle Lage, die Aussichten für 2023 und darüber, warum Sanierungsexperten oft „Spaßbremsen“ sind.

Herr Köstens, die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung im Herbst und das nächste Jahr klangen zum Teil sehr dramatisch. Trotzdem ist die große Pleitewelle bislang ausgeblieben. Ist die Stimmung doch schlechter als die Lage?

Viele Unternehmen, vor allem der inhabergeführte Mittelstand, waren schon vor dem Ukrainekrieg stark angeschlagen. Der im Zuge der Pandemie erwartete Tsunami hat sich aber als sanfte Ostseewelle entpuppt, weil der Staat die Wirtschaft mit Liquidität geflutet hat. Auch wenn die Statistik das noch nicht zeigt, gibt es nach meiner Einschätzung sehr viele Unternehmen, die insolvenzreif sind, weil sie die Notwendigkeit umfassender Effizienzverbesserungen und Restrukturierung in den Jahren 2020 und 2021 nicht erkannt oder schlichtweg verschlafen haben – eben aufgrund der Förderungen. Diese Unternehmen gehen jetzt direkt in die Abwicklung, Insolvenz oder Eigenverwaltung. Viele werden von den Banken künstlich am Leben gehalten.

Welche Branchen trifft es besonders?
Hammer: Die Frage, wer nicht betroffen ist, wäre schneller zu beantworten. Vor allem alle produzierenden, denn die haben am meisten unter den hohen Energiekosten zu leiden. Günstige Energie ist bisher das Rückgrat der deutschen Industrie gewesen. Diese Geschäftsgrundlage ist jetzt weggefallen. Gleichzeitig hat die Industrie den strukturellen digitalen Wandel über Jahre vernachlässigt, weil es wirtschaftlich gut gelaufen ist. Das fällt uns nun doppelt vor die Füße. Wir haben uns in einer Pseudosicherheit gewogen, dass es immer so weitergeht. Dass das nun nicht mehr so ist, gibt gesamtwirtschaftlich zwar Anlass zur Sorge, stimmt uns andererseits aber hoffnungsfroh, dass die längst überfälligen Veränderungen und Reorganisationen jetzt endlich angegangen werden.

Sie haben sich auf mittelständische Unternehmen spezialisiert...
Köstens: Korrekt, die leiden derzeit am meisten. Großunternehmen, wie auch die im Dax notierten, trifft die aktuelle Situation nicht annähernd so stark, weil diese Unternehmen über eine ganz andere Eigenkapitalbasis verfügen. Schauen Sie in die Automobilindustrie: Während die OEM´s Rekordergebnisse erzielen, gehen die Zulieferer reihenweise in die Knie, weil sie ihr Geschäftsmodell nicht so schnell umstellen können, zum Beispiel auf E-Mobilität. Der deutsche Mittelstand ist in einem Dilemma gefangen, aus dem er aus meiner Sicht nur schwer wieder herauskommt.

Hammer: Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Ein großer, deutscher Konsumgüterhersteller, 200 Millionen Umsatz, 900 Mitarbeiter:innen, als klassischer enomyc-Kunde. Die Firma ist immer moderat gewachsen. 2021 hat das Unternehmen ein Rekordergebnis erzielt. Um künftige Lieferengpässe so gut wie möglich zu vermeiden, hat sich das Unternehmen 2021 mit Unmengen von Ersatzteilen eingedeckt. Dann bricht Anfang 2022 der Ukrainekrieg aus und das Konsumverhalten der Menschen ändert sich von heute auf morgen komplett. So wird ein Geschäftsmodell, das 20 Jahre lang gut funktioniert hat, innerhalb von sechs Monaten zum Sanierungsfall.

Was lässt sich aus solchen Fällen lernen? Was raten Sie Ihren Kund:innen?

Köstens: Die Märkte sind so volatil, dass eine solide Planung für mehrere Jahre sehr schwierig geworden ist. Unternehmen müssen deswegen viel stärker in Szenarien denken und planen. Sie müssen in der Lage sein, Szenarien in die bestehende Planung zu integrieren, und ihre Pläne wöchentlich, monatlich und quartalsweise sehr eng tracken, um proaktiv statt reaktiv steuern zu können. Das ist etwas, was momentan noch sehr wenige unserer Kund:innen tun, zumal, wenn die Geschäfte gut laufen. Größere Unternehmen machen das, die börsennotierten allein aufgrund ihrer Berichtspflichten. Aber im gehobenen Mittelstand, da wird meistens viel zu spät reagiert. Wenn wir dann in so ein Unternehmen kommen, ist es auch unser Job, die „Spaßbremse“ zu sein, weil wir lieber konservativ als optimistisch planen und den kritischeren, aber eben auch realistischeren Blick auf die Dinge haben. Warum? Weil unsere Erfahrung zeigt, dass es naiv ist, zu glauben, dass der Markt es schon richten wird, wenn die Dinge erstmal drei Monate lang aus dem Ruder gelaufen sind. Das hat in den gut 1.300 Projekten, die wir durchgeführt haben, vielleicht in zwei Prozent der Fälle funktioniert.

Wie verändert dieses neue, hochdynamische und schwierige Umfeld Ihre Arbeit?

Köstens: Sanierung wird immer komplexer und schwieriger, die Anforderungen werden höher und die Zeitfenster zur Vorbereitung von Entscheidungen werden kleiner. Deswegen müssen wir als Berater:innen noch schneller und noch konsequenter sein. Sie müssen heute innerhalb weniger Wochen in der Lage sein, die Zukunftsfähigkeit und den Fresh Money-Bedarf eines Unternehmens beurteilen und auf einer dünnen Informationsbasis argumentieren oder ablehnen zu können. Historisch kommen wir aus der vorinsolvenzlichen Beratung, deren Ziel es ist, Insolvenzen zu vermeiden. Inzwischen kommen wir aber mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass man gerade vor dem Hintergrund der volatilen Märkte den Mut zu klaren Positionen braucht. Wenn ein Unternehmen in dieser Form keine Zukunft hat, dann muss man das auch so benennen. Dann kann es ein probates Mittel sein, eine Restrukturierung aus der Insolvenz anzugehen, um schneller agieren zu können. Aber dafür braucht man als Berater:in sehr viel Erfahrung und Entschlossenheit.

Hammer: Bei der aktuellen Komplexität der Projekte kommt es nicht nur auf die Expertise der einzelnen Berater:innen an, sondern auch auf die Substanz des Beratungsunternehmens. Um die für eine erfolgreiche Restrukturierung erforderliche fundamentale Knowledge aufzubauen, müssen sie schon eine Weile etabliert am Markt sein und viele Projekte durchgeführt haben. Diese Entwicklung wird in meinen Augen dazu führen, dass die langjährig etablierten Player den Markt in den nächsten Jahren zulasten kleinerer Beratungshäuser wieder stärker dominieren werden. Auch bei den Banken beobachten wir einen zunehmend selektiven Auswahlprozess, welche Beratungen man derartig komplexe Projekte als Partner zutraut. Da ist unsere jahrelange Expertise, gerade unter Druck und in Sondersituationen, von Vorteil.

2023 wird enomyc 20 Jahre alt. Sie beide haben das Unternehmen gegründet. Was sind Ihre Pläne?

Hammer: Als wir unser Real Estate-Team Mitte 2021 gegründet haben, war noch nicht absehbar, dass die Zinsen so steigen werden oder dass viele der großen Projektentwickler massiv Probleme bekommen. Das ist rückblickend noch eindeutiger ein wichtiger strategischer Schritt gewesen.

Köstens: Auch die professionelle Verstärkung im M&A-Bereich ist komplementär zu unserem Geschäftsmodell, denn wenn es in einem Unternehmen nicht mehr weitergeht, sind Eigenkapitalbeschaffung, Verkauf von Anteilen oder die Gewinnung von Gesellschafter:innen wichtige Themen. Damit sind wir für die Krise gut aufgestellt.

Hammer: Wir haben vor vier Jahren ganz bewusst mit unserem Rebranding zu enomyc angefangen, uns selbst zu transformieren. Dabei haben wir auch gezielt jüngere Beraterinnen und Berater an Bord geholt sowie unsere Partnerebene deutlich verjüngt und ausgebaut. Denen wollen wir unsere Erfahrung weitergeben und dadurch einen tragfähigen Unterbau mit unserer enomyc-DNA schaffen. Ich wünsche mir, dass vor allem auch unsere jüngeren Berater:innen kontinuierlich mehr Verantwortung in unserem Unternehmen übernehmen und gerade in dieser einmaligen makroökonomischen Sondersituation von unserer jahrelangen krisenerprobten Expertise profitieren. Da sind wir auf einem guten Weg.

Es bleibt also spannend. Herr Hammer, Herr Köstens – herzlichen Dank für das Gespräch!

 

An dieser Stelle möchten wir uns herzlich bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, liebe Geschäftspartnerinnen und Geschäftspartner sowie vor allem auch bei unseren Expertinnen und Experten und bei unseren Kolleginnen und Kollegen für die fortwährende Unterstützung und das stets hohe Interesse an unseren Interviews, Fachartikeln und Podcasts bedanken. Wir verabschieden uns in die Weihnachtspause und freuen uns, Sie auch im neuen Jahr mit vielen interessanten Beiträgen zu unterhalten.

Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein frohes Weihnachtsfest, besinnliche Festtage sowie ein gesundes und erfolgreiches Jahr 2023.

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