Einstieg in den Hamburger Hafen, mutmaßlicher Spionage-Ballon über den USA, Zusammenschluss mit Russland und Konflikt mit Taiwan: China befeuere die Skepsis und den Stimmungswechsel seiner Wirtschaftspartner ganz allein, sagen die einen. Das China-Bashing sei überzogen, finden die anderen. Eines ist aber sicher: Chinas Strategie geht nicht spurlos an Deutschland vorbei. Kann es mit den deutsch-chinesischen Beziehungen so weiterlaufen wie gehabt? Wie würde sich eine Entkopplung auswirken? Und eine “Goldene Mitte”: Wie sähe diese aus? Drei Szenarien mit Martin Hammer.
Herr Hammer, im Zusammenhang mit China fällt oft der Begriff der angehenden “Supermacht”. Wie schätzen Sie die Entwicklungen ein?
China ist uneingeschränkt die zweite Supermacht – neben den USA. Wobei China versucht, die USA ja zu überholen. China ist Atomsupermacht, hat gigantische Einwohnerzahlen, ist die “Werkbank der Welt” und verfügt über eine ultramoderne Industrie.
Reicht das? Um eine wirtschaftliche Supermacht zu werden, braucht es Handelspartner. Chinas Strategie hat aber zuletzt viele verunsichert. Braucht es nicht Stabilität und Verlässlichkeit für gute Geschäftsbeziehungen?
Die braucht es absolut. Und ja, die zunehmende Unberechenbarkeit Chinas – die Willkür zur Pandemie, die harten Lockdowns, die geschlossenen Häfen und unterbrochenen Lieferketten – das alles hatte für Teile der deutschen Industrie schwerwiegende Folgen. Hinzu kommt Chinas Zugewandtheit zu Russland. Die Abschottung gegenüber dem Westen wächst, ebenso die Spannungen. In Deutschland haben diese geopolitischen und internationalen Handelskrisen zumindest das Bewusstsein dafür geschärft, wie abhängig wir von China sind.
Man könnte vermuten, der Ausweg aus der Abhängigkeit heißt "Entkopplung". Aber die Zahlen aus dem aktuellen IW-Kurzbericht zeigen: China ist weiterhin Deutschlands größter Wirtschaftspartner. Das Handelsbilanzdefizit war mit über 40 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2022 "außergewöhnlich hoch", heißt es. Im zweiten verdoppelte es sich auf rund 84 Milliarden Euro.
Man muss dazu sagen: Es gab schon früher gute Handelsbeziehungen zu China, aber das gab es noch nie! Diese extreme Dynamik, mal historisch betrachtet, hat erst nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers an Fahrt aufgenommen. 2008 begann die Wegorientierung von der US-amerikanischen Industrie: Europa öffnete sich massiv dem Osten. Davon profitierten alle. Heute ist China aus meiner Sicht – trotz technologischer Sprünge – weiterhin die "Werkbank der Welt" und kann – gegenüber anderen Ländern wie Japan und den USA – einen Exportüberschuss vorweisen. Ein Handelsdefizit besteht nur mit wenigen westlichen Ländern.
Um die “Werkbank der Welt” zu bleiben, braucht es Ressourcen. Und die gehen China langfristig aus: Seine Geburtenraten sinken seit vielen Jahren. Die Zahl der Erwerbstätigen sank zuletzt innerhalb eines Jahres um über 13 Millionen. China, so Prognosen, steht ein ernstzunehmender Arbeits- und Fachkräftemangel bevor. Ist die Entkopplung auf lange Sicht nicht auch ein notwendiges Übel?
Große Teile der Wirtschaft denken nicht auf lange Sicht – die Zeiten sind volatil: Die meisten Wirtschaftsbosse denken maximal mittelfristig, in Analogie zu ihren eigenen Vertragslaufzeiten. Zwar wird der demographische Faktor in China – zu wenig Frauen, zu wenig Nachwuchs – insgesamt noch zuschlagen, aktuell aber verfügt die Volksrepublik über gewaltige Ressourcen: Das Land hat über 1,4 Milliarden Einwohner. Das Szenario des Ressourcenmangels droht vielleicht in zehn bis 15 Jahren, wenn nicht sogar später. Das kann Chinas Wirtschaftswachstum verlangsamen. Aussetzen wird es das aber nicht.
Der demographische Wandel Chinas ist also kein Argument für die wirtschaftliche Entkopplung.
Aktuell nicht.
Was dann?
Noch ist von Interdependenzen die Rede: China und Deutschland sind wechselseitig voneinander abhängig. Aber das Decoupling kommt. Es ist schon in Gange. Beide Länder sind bestrebt, die Interdependenzen zu reduzieren. Schon die Pandemie hat Europa die Fragilität globaler Lieferketten bewusst gemacht. Die ESG-Ziele flankieren diese Entwicklungen weiter. Local Sourcing hat zugenommen. Ich bin überzeugt, dass dies auch weiter zunehmen wird. Aber ein radikaler Transformationsprozess wird es nicht. Das einzige, was eine plötzliche Entkopplung auslösen würde, wäre politischer Natur – etwa kriegerische Auseinandersetzungen zwischen China und Taiwan. Dann könnte es zu einem dramatischen Decoupling kommen. Etwa so, wie wir es aktuell mit Russland erleben – nur noch schlimmer.
Wie schlimm genau? Was würde eine Entkopplung explizit bedeuten?
Ökonomisch einen Super-GAU. Nicht zuletzt aufgrund der starken Lieferkettenverpflichtungen. Wir haben das ja schon im "Kleinen" erlebt. Als Schiffe pandemiebedingt in geschlossenen Häfen feststeckten, kam es zu mehrwöchigen Warenverspätungen. Im großen Stil würde eine Entkopplung die deutsche Wirtschaft massiv gefährden. Bei einer beidseitigen Abkopplung von China und der EU lägen die Kosten für China, so der IW-Report, auf längere Sicht bei minus 1,3 Prozent des BIP. Sprechen wir über einen Handelskrieg mit dem Westen, wären es sogar minus 2,3 Prozent. Für ein Land wie China, das teilweise mit zweistelligem Zuwachs rechnet, wäre das fatal.
Und für Deutschland? Werden wir für unsere Unabhängigkeit unseren Wohlstand "tauschen" müssen?
Dadurch, dass die gegenseitige Abhängigkeit so groß ist, wäre es auch für Deutschland eklatant. Nehmen wir das Beispiel Russland – wenn auch die Verhältnismäßigkeit gegenüber China eine andere ist: Deutschland hat sich innerhalb weniger Monate unabhängig von russischem Gas gemacht und alle – ob Endkonsument:innen oder Industrie – spüren die Konsequenzen weiterhin. Die Abhängigkeit Deutschlands von China ist anderer Natur: Sie ist bei bestimmten Rohstoffen und Produktgruppen besonders groß und dadurch auch sehr kritisch, vorrangig im Bereich Elektronik. Bei einer Entkopplung – das haben Experten anhand von Modellen errechnet – würden Deutschland jährlich 36 Milliarden Euro Wertschöpfung durch die Lappen gehen. Das bedeutet langfristig eine Minderung des deutschen BIP um 1 Prozent – vorausgesetzt Deutschland setzt rechtzeitig und erfolgreich auf Diversifizierung und neue Lieferstrukturen.
Ich vermute, meine nächste Frage nach dem Szenario 2 – "Alles bleibt wie gehabt" – erübrigt sich. Wirtschaftsminister Habeck verbot im November 2022 den Verkauf der deutschen Chipfirma Elmos an chinesische Eigentümer. Ist Deutschland schon zu weit entfernt vom "Zurück"?
Meine geopolitische Einschätzung ist nicht so positiv. Ich glaube, wir müssen erkennen, dass Chinas Bestreben, die größte Supermacht der Welt zu werden, bedeutet, die USA als solche abzulösen. Dazu gehört aktuell der Zusammenschluss von China und Russland. China wird sich strategisch aber auch in weiteren Ländern ausbreiten. Ein Blick nach Afrika genügt: Alle strategischen Großinvestitionen werden dort von China getätigt. Viele afrikanische Staaten sind inzwischen fest in chinesischer Hand.
Dennoch vernimmt man auch Stimmen aus der Wirtschaft, die das "China-Bashing" für überzogen halten.
Das stimmt. Sie kommen vorrangig aus der Großindustrie. Ich denke, es wird eine Zweiteilung geben: Die großen Player aus Chemie und Automobil, wie BASF und BMW, werden weiterhin in China investieren. Der Markt ist einfach zu groß, um ihn aufzugeben. Sie werden deswegen weiterhin vor Ort und für den chinesischen Markt produzieren. Das Umdenken wird anderswo stattfinden: Bei den klassischen Mittelständlern, die China als verlängerte Werkbank für den europäischen Markt nutzen. Unternehmen, die dort einen oder zwei Produktionsstandorte vorhalten: Bei denen hat das Decoupling begonnen. Sie werden sich aus meiner Sicht nach und nach um 20 bis 25 Prozent von China entkoppeln.
Welche unternehmerische Frage zu China hat Sie zuletzt überrascht?
“Wie etablieren wir Expats in China?” Das wird tatsächlich schwieriger. Der Fachkräftemangel findet hier in einem ganz anderen Szenario statt. Das Problem ist politischer Natur: Leben in China hat für westeuropäische Fachkräfte an Attraktivität verloren. Viele Expats fürchten die Willkür der chinesischen Regierung – Stichwort “Null-Covid-Strategie”.
China-Expert:innen wie Janka Oertel sprechen von einer “Neujustierung”, einer “Rekalibrierung” des Wirtschaftsmodells Deutschland. Statt Abschottung also die “Goldene Mitte”? Wie könnte so eine aussehen?
Ich denke, eines hat uns der Russland-Ukraine-Konflikt gelehrt: Es darf nicht sein, dass sich das Land in Anbetracht der Lage noch abhängiger von China macht. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meinem Berateralltag: Wenn ich Unternehmen analysiere und keine diversifizierte Kundenstruktur vorfinde, bedeutet das ein gigantisches Risiko fürs Unternehmen. So ist es auch mit Deutschland: Es muss sich diversifizieren. Es braucht zusätzlich andere Lieferanten und andere Lieferketten. Hier findet eine Rückbesinnung statt. Wenn man mich fragt, dann liegt der Schlüssel für den zukünftigen Erfolg der EU in der EU selbst: Sie verfügt mit ihren 27 Mitgliedsstaaten über genügend Möglichkeiten, Subventionen gezielt einzusetzen. So wird sie neue, wirtschaftlich erfolgreiche Produktionsstandorte und Lieferketten in industrieschwächeren EU-Regionen aufbauen können, beispielsweise in Nordfinnland oder in Süditalien.
Welche Entwicklungen beobachten Sie konkret?
Ich beobachte, dass immer mehr Unternehmen versuchen, Risiken zu minimieren und deswegen Produktionskapazitäten außerhalb Chinas suchen. Wer sich jetzt mit Expansion und dem Aufbau weiterer Werke auseinandersetzt, schaut sich sehr genau in ost- und südeuropäischen Ländern um. Für die Kriterien Arbeits- und Fachkräfteverfügbarkeit, industrieller Standard, Zuverlässigkeit und politische Sicherheit gibt es sehr gute Alternativen in Europa. Konkret verfolge ich mit, wie sich beispielsweise große Fahrradhersteller von China lösen und ihre Produkte in Osteuropa anfertigen lassen. In Portugal hat sich das sogenannte “Tal der Fahrräder” in der Nähe von Porto gebildet. Hier findet ein aktiver Zusammenschluss aus Produzentenverbänden und anderen Firmen unmittelbar vor Ort statt. Außerhalb Europas sehe ich in Japan und Südkorea gute Chancen. Aber auch in Brasilien, Indonesien und Australien.
Es stellt sich also vielmehr die Frage “How to Diversify?” statt “To Decouple or not?".
Ja. Meines Erachtens wird es immer mehr darum gehen, mit welchen Ländern Deutschland zusammenarbeiten kann. Es werden Länder sein, die ein werteähnliches Geschäftsgebaren pflegen und deren politische Gesamtsituation stabil ist.